Jüdisches Leben in der Habsburgermonarchie

Um die Jahrhundertwende lebten in der Habsburgermonarchie über zwei Millionen Menschen mosaischer Religionszugehörigkeit. In der Ära des Liberalismus ließ die sukzessive rechtliche Gleichstellung ihre Hoffnung auf gesellschaftliche Integration gedeihen, zugleich entwickelte sich der aufkommende Antisemitismus zu einer latenten Bedrohung der jüdischen Bevölkerung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten Juden und Jüdinnen rund 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung von Österreich-Ungarn aus. Ihre demografische Verteilung war höchst unterschiedlich, die meisten fanden sich in den nordöstlichen Provinzen Cisleithaniens und in der ungarischen Reichshälfte. Während in den Alpenregionen kaum Juden und Jüdinnen lebten, war die jüdische Gemeinde in Wien eine der größten Europas.

Die jüdische Bevölkerung war höchst divers und lässt sich kaum als eine heterogene Gruppe definieren. Die jeweiligen Lebensumstände hingen davon ab, in welcher Region der Monarchie man lebte, wie sehr man sich dem jüdischen Glauben verbunden fühlte und wie weit sie man sich assimiliert hatte. Die Juden und Jüdinnen der Monarchie hatten keine gemeinsame Sprache, waren abhängig von der jeweils regionalen Politik recht unterschiedlich integriert und machten im Zusammenleben mit der nichtjüdischen Bevölkerung unterschiedliche Erfahrungen. Insofern lässt sich kaum eine gemeinsame Identität der jüdischen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie ausmachen. Dennoch wurde sie angesichts der sich verschärfenden Nationalitätenkonflikte zunehmend als eine identifizierbare Gruppe gefasst.

An der Revolution von 1848 hatten sich viele liberal gesinnte Juden und Jüdinnen beteiligt, die auf eine Abschaffung bestehender Diskriminierungen hofften. Bis in die Ära des Liberalismus war die jüdische Bevölkerung der Habsburgermonarchie rigorosen politischen und ökonomischen Diskriminierungen ausgesetzt und durch eine spezifische Gesetzgebung gesellschaftlich isoliert. Diese Diskriminierungen reichten von Niederlassungsverboten über steuerliche Sonderregelungen bis hin zur Beschränkung der jüdischen Bevölkerung auf einige wenige Berufssparten. Hinzu kamen hetzerische Anfeindungen, die in antijüdischen Krawallen und gewalttätigen Ausschreitungen gipfelten.

Erst mit dem Aufstieg des politischen Liberalismus entstand ein gesellschaftliches Klima, in dem die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung Fuß fassen konnte. Eine Ära des Fortschritts und der Toleranz schien angebrochen und der Zerfall des neoabsolutistischen Systems in den 1860er Jahren brachte den Juden und Jüdinnen (regional zeitversetzt) die gesetzliche Gleichstellung. Schrittweise wurden antijüdische Restriktionen fallengelassen und die Aufhebung der Zünfte sowie die Gewährung der Gewerbefreiheit brachten jene Voraussetzungen, welche die Assimilation und Emanzipation der jüdischen Bevölkerung möglich machten.

Dieser Emanzipations- und Integrationsprozess führte zu einer umfassenden Assimilationsbewegung in der jüdischen Bevölkerung. Mit der Säkularisierung jüdischer Lebensgewohnheiten, einer allgemeinen Bildungsorientierung und Annäherung an die nicht-jüdischen Lebensweisen gelang es großen Teilen, sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu etablieren. Sie integrierten sich in das neue Bürgertum, übten als Rechtsanwälte, Ärzte oder SchauspielerInnen freie Berufe aus und waren im Finanz- und Bankwesen, in der Industrie sowie im Handel tätig.

Parallel dazu blieb jedoch ein großer Teil der Juden und Jüdinnen in den nördlichen und nordöstlichen Landesteilen und ländlichen Gebieten der Monarchie vom Modernisierungsprozess ausgeschlossen. Sie hielten an orthodoxen Traditionen fest und schafften als Arbeiter, Handwerker, Tagelöhner oder Dienstboten keinen sozioökonomischen Aufstieg.

Neben der zunehmenden Integration leistete die Liberalisierung aber auch der Judenfeindschaft Vorschub. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche formierten sich antijüdische Kräfte. Antisemitische Pamphlete ließen erste Ansätze eines rassisch begründeten Antisemitismus erkennen und alte wie neue Stereotype der Judenfeindschaft verfestigten sich.

 

Bibliografie 

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Schuster, Frank: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkriegs (1914–1919), Köln/Weimar/Wien 2004

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.