„Wer ein Jud ist, das bestimme ich“

Der christlichsoziale Antisemitismus Karl Luegers

Mit der Wahl Karl Luegers zum Wiener Bürgermeister im Jahr 1897 erlebte der politische Antisemitismus seinen Höhepunkt und wurde zu einer gesellschaftlichen Kraft, die das Alltagsleben dominierte.


 

Zwischen 1890 und 1910 setzte eine Phase der populistischen Massenpolitik ein, die wesentlich durch Karl Luegers Antisemitismus geprägt war. Als Führer der Christlichsozialen Partei vertrat er einen verbalradikalen Antisemitismus. Wirkungsvoll etablierte er einen antiliberalen Bürgerblock mit klerikalem, antisemitischem und antisozialistischem Wertegefüge und sprach damit vor allem die orientierungslos gewordenen Kleinbürger und Mittelschichten an.

Karl Lueger hatte einen ausgeprägten Spürsinn für demagogische Parolen und entschied sich aus taktischen Überlegungen für eine antisemitische Haltung. In der Christlichsozialen Partei wurde der Antisemitismus zum politischen Instrument der Massenmobilisierung. Lueger entwickelte einen xenophoben und antisemitischen kulturellen Code, der für seine Anhängerschaft zur identitätsstiftenden Werthaltung wurde. Indem Luegers populistische Rhetorik Juden und Jüdinnen als Außenseiter stereotypisiert, konnten ‚die Wiener‘ in Abgrenzung dazu eine „imagined community“ bilden.

Ideologisch war die antisemitische Ausrichtung Luegers wenig gefestigt. Er bediente sich nach Belieben religiös-, wirtschaftlich- und rassistisch-antisemitischer Positionen. Deutlich wurde diese opportunistische Haltung in dem zynischen Ausspruch: „Wer Jud ist, das bestimme ich.“

Zum einen stützte sich Lueger auf eine lange Tradition religiös-antijüdischer Ressentiments. Er bediente sich populärer Mythen der katholischen Judenfeindschaft, die über Jahrhunderte tradiert und von der offiziellen kirchlichen Doktrin gestützt wurden. Darüber hinaus nutzte Lueger die ökonomisch begründete antijüdische Stimmungslage, in der jüdische Industrielle und Bankiers als Verursacher von sozialen Problemen galten. Juden seien die „Spezialisten des schnöden Profits“, ihnen wurde „unangemessene Sucht nach Geldgewinn“ und die „Expropriierung des einheimischen Volkes“ vorgeworfen.

Durch die Verschmelzung der unterschiedlichen antijüdischen Fundamente entfaltete der christlichsoziale Antisemitismus eine besonders explosive Mobilisierungsdynamik. In seinem Kern war die Ausgrenzung und Diffamierung der Juden und Jüdinnen jedoch Mittel zum Zweck, um gegen die alten Eliten zu mobilisieren und den Liberalismus zurückzudrängen.

 

Bibliografie 

Bunzl, John/Marin, Bernd: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, Innsbruck 1983

Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/New York 1999

Pulzer, Peter: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Göttingen 2004

Weiss, John: Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich, Hamburg 1997

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.