Antisemitismus bei anderen Nationalitäten der Habsburgermonarchie

Antisemitismus war nicht nur ein Phänomen der deutschsprachigen politischen Szene der Habsburgermonarchie. Auch unter den anderen Nationalitäten Zentraleuropas hatte die Judenfeindschaft eine unheilvolle Tradition.

Anders als in den deutsch-dominierten österreichischen Donau- und Alpenländern, wo sich angesichts des vergleichsweise niedrigen Anteils jüdischer Bevölkerung – mit Ausnahme von Wien und Triest gab es hier kaum nennenswerte jüdische Gemeinden – ein „Antisemitismus ohne Juden“ beobachten ließ, war der jüdische Bevölkerungsanteil in den übrigen Reichsteilen deutlich höher.

Ungarn verfügte über eine Vielzahl historischer jüdischer Gemeinden, wobei in manchen Landesteilen der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung bis zu 15 % betrug. Während das traditionelle ungarische Judentum in eher kleinstädtisch geprägten Gemeinden verankert gewesen war, wuchs in Gestalt der boomenden Metropole Budapest ein neues Zentrum jüdischen Lebens heran, das auch Ziel massiver Einwanderungswellen galizischer und russischer Juden wurde. Lebten 1880 in der ungarischen Hauptstadt noch 71.000 Juden, wuchsen die Zahlen in den folgenden Jahrzehnten rapide an: Im Jahr 1900 zählte man 166.000 jüdische BürgerInnen (was einem Anteil von 19 % entspricht), 1920 bereits 216.000 (23 %). Nach Warschau galt Budapest somit während des Ersten Weltkriegs als zweitgrößte jüdische Gemeinde Europas. In Wien, wo zwar zahlenmäßig nur unwesentlich weniger jüdische BürgerInnen lebten, machten diese aufgrund der größeren Bevölkerungszahl der Stadt nur knapp 10 % der gesamten Einwohnerschaft aus.

Ähnlich wie in Wien war in Budapest der jüdische Anteil am Ausbau der Stadt zu einem kulturellen und ökonomischen Zentrum bedeutend. Und ähnlicher Stereotypen bediente sich auch die antisemitische Propaganda der radikalen Nationalisten, die das liberale jüdische Bürgertum in bekannter „Blut und Boden“-Manier angriffen. Die ungarische Spielart des Antisemitismus glaubte in den als „merkantil“, „urban“ und „kosmopolitisch“ dargestellten Juden Feinde des „wahren Ungartums“ auszumachen, das mit Begriffen wie „ländlich“, „christlich“ und „heimatverbunden“ umschrieben wurde.

In Galizien, das einen noch höheren Anteil an jüdischer Bevölkerung als Ungarn aufwies, kamen zum religiös motivierten Antisemitimus ökonomisch-soziale Gründe hinzu. Die traditionellen Rollen der Juden in der dörflichen Gesellschaft des Landes waren die des Gutsverwalters, Schankwirts oder Händlers mit agrarischen Produkten, was sie zu den vermeintlich Verantwortlichen für soziale Missstände wie extreme Armut, Alkoholismus und Perspektivenlosigkeit und damit zur Zielscheibe des Hasses machte. Das Image der Juden als Ausbeuter, die an der Notlage der schutzlosen Bauern verdienten, war hier stark verankert. Dazu kam ein rapides Anwachsen der jüdischen Gemeinden – in denen ein Großteil der Bewohner in bitterster Armut lebte – aufgrund der Zuwanderung russischer und rumänischer Juden, v. a. nach dem Auftreten organisierter Pogrome in Russland ab 1880. Für viele von ihnen war Galizien jedoch nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Wien, Budapest oder weiter nach Westen.

In Galizien tendierten die Aufsteiger des städtischen Judentums, für welche die Abkehr vom Jiddischen mit der Emanzipation aus dem Shtetl-Dasein einherging, zur Annahme des Polnischen als Verkehrs- und Kultursprache. Dennoch bleib den Juden eine vollständige Integration verwehrt: Vonseiten des national-polnischen katholisch-konservativen Mainstreams schlug ihnen eine Welle des Antisemitismus entgegen. Aus der Sicht der Ruthenen wurden die Juden nun Handlanger und Verbündete der polnischen Unterdrücker.

Etwas besser war die Situation in Böhmen, obwohl die Juden hier von der tschechischen Nationalbewegung aufgrund ihrer traditionellen Tendenz zum Deutschtum als Agenten der Germanisierung gesehen wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich ein selbstbewusstes tschechisches Wirtschafts- und Bildungsbürgertum zu entwickeln begann, öffnete sich das jüdische Bürgertum den Idealen der tschechischen nationalen Ideologien und wurde von den liberalen, freidenkerischen tschechischen Eliten zögernd angenommen. In Mähren, wo der Gegensatz zwischen Stadt und Land die nationalen Grenzen definierte, waren die zumeist im städtischen Milieu angesiedelten Juden weiterhin deutsch-affin, was neben dem größeren Einfluss des Katholizismus auch eine Erklärung für die stärkeren antisemitischen Strömungen unter den dortigen Tschechen darstellt.

Aber auch in Böhmen war ein latenter Antisemitismus vorhanden: Traurige Berühmtheit erlangten die „Hilsneriaden“ (benannt nach dem Angeklagten Leopold Hilsner), als im Jahre 1899 antisemitische Reflexe im Zusammenhang mit dem Prozess um einen angeblichen Ritualmord in Polná, einer böhmischen Kleinstadt mit einer alten jüdischen Gemeinde, auftauchten. Es war dies ein Lakmus-Test für die tschechische Politszene, die sich liberale und humanistische Ideale auf die Fahnen geheftet hatte und nun dennoch den demagogischen Versuchungen zu erliegen drohte.

Bibliografie 

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Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche in den böhmischen Ländern 1780–1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 71), München 1995

Lukacs, John: Ungarn in Europa. Budapest um die Jahrhundertwende, Berlin 1990

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

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  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.