Antisemitismus als politische Bewegung
Der Niedergang des politischen Liberalismus zu Ende des 19. Jahrhunderts wurde vom Aufschwung antisemitischer Bewegungen begleitet. In Wien zeigte sich der Antisemitismus auf politischer Ebene in zwei konkurrierenden Richtungen: im deutschnationalen und christlichsozialen Antisemitismus.
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durchzog ein Generationswechsel das Bürgertum. Die bislang von Liberalismus und konstitutionellen Forderungen geprägte Generation wurde von einer neuen Bürgerlichkeit abgelöst, die sich weniger an humanistischen Idealen orientierte. Anstatt der egalitären Forderung nach Integration und Bindung der Macht an rechtsstaatliche Grundsätze traten sie für eine nationalistische Wende ein, die Juden und Jüdinnen exkludierte. Ausdruck fand diese gesellschaftliche Trendwende in der antisemitischen Positionierung der österreichischen Parteien. In den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde der politische Antisemitismus gesellschaftsfähig und Antisemiten rückten in einflussreiche Positionen vor.
Innerhalb der deutschnationalen Bewegung war Georg Ritter von Schönerer die treibende antisemitische Kraft und einer der Ersten, der den Antisemitismus in die Politik einbrachte. Schönerer verband seine Ablehnung der Habsburgermonarchie, des Liberalismus und des Kapitalismus mit einem rassisch definierten, zur Gewalt aufrufenden Antisemitismus. Seine Judenfeindschaft richtete sich selbst gegen getaufte Juden, ‚das Jüdische‘ war seiner Überzeugung nach eine Determinante, die den gesellschaftlichen Ausschluss der Juden und Jüdinnen als Angehörige einer fremden „Rasse“ verlangte. Im Zentrum seines völkischen Antisemitismus stand ein Rassenkonzept, das keine Assimilation zuließ. Dieser Überzeugung folgend verankerte er 1885 den zwölften Passus im Linzer Programm, dem er damit eine klar antisemitische Ausrichtung gab: „Zur Durchführung der angestrebten Reformen ist es unerläßlich, den jüdischen Einfluss auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu beseitigen“
Entscheidend beeinflusst wurde der völkische Antisemitismus der deutschnationalen Bewegung von den deutschen Burschenschaften, die sich auf die angebliche Wissenschaftlichkeit des Rassismus stützten und einen großen antisemitischen Eifer entfalteten. Sie durchdrangen alle Organisationen, in denen Studierende und Akademiker eine führende Rolle spielten.
Obwohl es Schönerer nicht gelang, die Massen zu mobilisieren und er keine größeren Wahlerfolge erzielte, war er dennoch maßgeblich daran beteiligt, den Antisemitismus in der politischen Landschaft Österreichs fest zu verankern.
Literatur:
Beller, Steven: Wien und die Juden 1867–1938, Wien/Köln/Weimar 1993
Bunzl, John/Marin, Bernd: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, Innsbruck 1983
Pulzer, Peter: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Göttingen 2004
Schubert, Kurt: Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien/Köln/Weimar 2008
Weiss, John: Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich, Hamburg 1997
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Kapitel
- Antisemitismus: Eine historische Definition
- Jüdisches Leben in der Habsburgermonarchie
- Antiliberalismus – Antikapitalismus – Antisemitismus
- Antisemitismus als politische Bewegung
- „Wer ein Jud ist, das bestimme ich“
- Gesellschaftliche Trägerschichten des österreichischen Antisemitismus
- Antisemitismus bei anderen Nationalitäten der Habsburgermonarchie
- Die Habsburgermonarchie als Garant pluralistischer Identitäten
- Jüdische Soldaten in der österreichisch-ungarischen Armee
- „Ostjuden“ als Angelpunkt judenfeindlicher Hetze
- Der Bruch des inneren Burgfriedens