Das Verhältnis der Kriegsgefangenen zur Zivilbevölkerung

Die Militärbehörden waren bestrebt, die in ihrer Gewalt befindlichen Feindsoldaten möglichst von der eigenen Zivilbevölkerung fernzuhalten. Im Laufe der Zeit mussten sie aber feststellen, dass es zu regelrechten Verbrüderungen kam. Fremde und Einheimische waren in ähnlicher Weise von der wachsenden ökonomischen, sozialen und politischen Krise betroffen.

Deutsche Heeresstellen bemängelten im Laufe der Zeit immer öfter die laxe Bewachung der Kriegsgefangenen. Nicht viel anders äußerten sich ihre Kollegen in der Donaumonarchie. Sie echauffierten sich etwa Ende 1915 über die Missachtung der „durch Sitte und Anstand gebotenen Schranken“ zwischen der lokalen Bevölkerung und den „ausländischen Militärpersonen“. In den entsprechenden Berichten tritt eine Alltagswirklichkeit zutage, in der Gefangene nicht selten „wie normale Arbeiter“ nach der Dienstzeit ins Kino und Wirtshaus gingen oder an anderen öffentlichen Veranstaltungen und Belustigungen teilnahmen.

Besonders scharf reagierten sowohl Armeekreise als auch Zivilbehörden auf das „intolerable Benehmen“ von Frauen und Mädchen, die „sich ohne Rücksichten auf Nationalität, Rasse und Familienehre im Verkehr“ mit den gegnerischen Soldaten „vergessen“ hätten. Verbote und Strafandrohungen zeigten jedoch kaum Wirkung. An den „Heimatfronten“ verbanden sich die Lebensumstände der Gefangenen mit der gesellschaftlichen Lage der kriegführenden Staaten insgesamt.

Die verantwortlichen Regierungsstellen ebenso wie maßgebliche Wirtschaftskreise stellten alarmiert fest, dass die in ihrer Gewalt befindlichen Feinde mitunter bereit waren, den Arbeitskampf der eigenen Bevölkerung mitzutragen. Das galt in unterschiedlichem Ausmaß auch für Russland und die Donaumonarchie. Bei der k. u. k. Heeresverwaltung etwa gingen immer häufiger Meldungen über „passive Resistenz“ und Streikaktionen ein, an der sich auch russische Kriegsgefangene beteiligten.

Schlaglichtartig werden die Beziehungen zwischen der Zivilbevölkerung und den „ausländischen Soldaten“ zum Beispiel anhand einer spontanen Demonstration in Wien erhellt. Im Mai 1917 hatten dort Passanten eine Gruppe russischer Kriegsgefangener gesehen, die sich mühselig fortbewegten, schließlich „aus der Reihe austraten“ und „mit aufgehobenen Händen“ um Brot baten. Die begleitende Wachmannschaft versuchte die „Ordnung“ mit Gewalt wiederherzustellen. Daraufhin stürzten Kinder und Frauen auf die Straße und schrien: „Pfui, aufhören, Krieg zu führen, wenn nichts zu fressen da ist, so wird´s unseren armen Teufeln auch gehen in der Gefangenschaft.“

Bibliografie 

Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003

Moritz, Verena/Leidinger, Hannes: Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich (1914–1921), Bonn 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?