Bereits während des Krieges war in den Großstadtstraßen der meisten europäischen Länder ein neuer Typus des kriegsbeschädigten Soldaten anzutreffen, dessen Schüttel- und Zittersymptome die ungeahnte Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs zum Ausdruck brachten: der „Kriegszitterer“.
Die psychischen Erkrankungen von Soldaten erreichten im Ersten Weltkrieg eine bisher nie dagewesene Dimension. Mit der Verwendung maschineller Kampfgeräte gingen neue Subjekterfahrungen einher: Das tagelange Ausharren in den Schützengräben, das Grollen der Artilleriegeschütze sowie der Anblick von schwer verwundeten bzw. verstümmelten Kameraden belastete die Psyche der Soldaten ungemein und rief massenhafte seelische Verwundungen und Traumata hervor. Die Zahl der allein in Wien bis 1918 behandelten nervenkranken Soldaten wird auf über 120.000 geschätzt.
Der industrialisierte Krieg rückte die „Nervenstärke“ als eine der wichtigsten Kampfeigenschaften in den Mittelpunkt. Nicht nur die körperliche, sondern vor allem die mentale Kraft war notwendig, um in den kriegerischen Extremsituationen bestehen zu können. „Mit einem Wort: der passive Mut der Nerven hat heute den aktiven Mut der Muskeln zum großen Teil abgelöst“, formulierte der Befehlshaber des Grazer Militärkommandos, Erwin v. Mattanovich. Viele Psychiater waren davon überzeugt, dass der Krieg zur Schulung bzw. Abhärtung der Nerven und damit zur Gesundung ‚verweichlichter’ und ‚degenerierter’ Gesellschaften beitragen würde. Die bereits nach den ersten Kriegsmonaten tausendfach auftretenden psychischen Erkrankungen ließen die Vorstellung vom Krieg als „Nervenstahlbad“ jedoch obsolet erscheinen.
„Bald nachdem die erste Kriegsbegeisterung verrauscht war, sah man zunehmend Menschen, die mit Kopf, Armen und Beinen wackelten, allerlei Gesichter schnitten, stotterten, nicht gehen konnten […]“ resümierte der deutsche Psychiater Ernst Lüdemann.
Die seelisch verwundeten Soldaten wiesen eine Vielzahl von unterschiedlichen Symptomen auf: Zuckungen, unentwegtes Zittern (Tremor), Lähmungserscheinungen, Bewegungsstörungen, Mutismus bzw. Stimmverlust, Stottern, Hör- oder Sehverlust, verzerrte Glieder, Erbrechen, Bettnässen, Depression, Angst- oder Dämmerzustände. Die Störungen wurden je nach auftretender Symptomatik als „Kriegsneurose“, „Kriegshysterie“, „Kriegspsychose“, „Kriegsneurasthenie“ oder „Nervenschock“ bezeichnet und von der modernen Psychiatrie retrospektiv als posttraumatisches Stresssyndrom identifiziert. Der Terminus der „Kriegsneurose“ fungierte dabei als Sammelbezeichnung für im Krieg auftretende, nichtsomatische Störungen der Psyche sowie des Nervensystems.
Die von der modernen Psychiatrie vorgeschlagene Definition der Krankheit als posttraumatisches Stresssyndrom basiert jedoch auf der Vermutung, dass die zu beobachtenden Symptome an bestimmte traumatische Erfahrungen gebunden seien, die den Soldaten gegenwärtiger Kriege ebenso widerfahren wie den Soldaten des Ersten Weltkriegs. Traumata stellen jedoch keine universelle, ahistorische Kategorie dar. Genauso wenig können aktuelle Krankheitsbilder rückwirkend angewandt werden, um psychische Störungen der Kriegszeit zu qualifizieren. Bei Erkrankungen wie „Neurosen“ oder „Hysterie“ handelt es sich nicht um eine bloße Beschreibung der ‚Realität’, sondern um ein kulturell hergestelltes Phänomen, dessen historischer Kontext stets mitberücksichtigt werden muss.
Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 15-134
Hofer, Hans-Georg: Effizienzsteigerung und Affektdisziplin. Zum Verhältnis von Kriegspsychiatrie, Medizin und Moderne, in: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 219-242
Hofer, Hans-Georg: Was waren „Kriegsneurosen“? Zur Kulturgeschichte psychischer Erkrankungen im Ersten Weltkrieg, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 309-321
Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben: Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 326-335
Zitate:
„Mit einem Wort: …“: Feldmarschall Leutnant Erwin v. Mattanovich: Mut und Todesverachtung, Graz 1915, 9, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 59
„Bald nachdem die erste Kriegsbegeisterung …“: Ernst Lüdemann: Die Nerven. Ihr Wesen, ihre Gesunderhaltung, München 1928, 186, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 51
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Kapitel
- Der Krieg als Laboratorium
- Medizin als Waffe
- „ …die Doktoren hatten nicht einmal Schürzen über ihrer Uniform.“
- Von Waffen und Wunden
- ‚Der innere Feind’
- Im Kampf gegen den ‚inneren Feind’
- Die Spanische Grippe von 1918
- Vom Zucken, Zittern und Torkeln
- Zwischen Hysterie und Neurasthenie
- Nervenversager oder Simulanten?