Zwischen Hysterie und Neurasthenie

Diagnostik von Nervenkrankheiten im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg brachte ein Heer an seelisch verwundeten Soldaten hervor, welche die ungeahnte Destruktionskraft des modernen Maschinenkrieges nicht länger ertragen konnten. Diagnostik und Behandlung der psychischen Erkrankungen stellten die Militärpsychiatrie vor neue Herausforderungen.


 

Die zuständigen Psychiater und Nervenärzte waren sich über die Ursachen der psychischen Störungen keineswegs einig. Sie stimmten jedoch größtenteils darin überein, dass die Krankheitserscheinungen keinen organischen bzw. somatischen, sondern einen psychogenetischen Ursprung hätten. Die unter den Soldaten häufig zu beobachtenden Bewegungsstörungen, Zitterzustände, Schüttelsymptome oder Lähmungserscheinungen deuteten auf eine männliche Form der Hysterie hin. Obwohl sie lange vor dem Ersten Weltkrieg auch bei Männern beobachtet werden konnte, wurde die Hysterie jedoch als eine spezifisch weibliche Erkrankung charakterisiert. Aus diesem Grund sollte ihre Verbreitung innerhalb der österreichisch-ungarischen Armee auch relativiert werden.

Zum einen sei Hysterie, so die rassenpsychiatrische Argumentationsweise, vor allem unter den slawischen und romanischen Völkern sowie unter Juden sehr weit verbreitet. Die Deutschen seien davon jedoch nur in geringem Ausmaß betroffen. Zum anderen würden sich unter Hysterikern besonders viele Simulanten befinden, die ihre Symptome nur vortäuschten. Der Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg äußerte in einem von ihm für die Wiener Medizinische Wochenschrift von 1916/17 verfassten Beitrag die Vermutung, dass die bei Hysterikern auftretenden Symptome nur dazu dienten, „Vorteile zu erreichen oder Übel zu vermeiden“. Die Unterscheidung zwischen „Nichtkönnenwollen“ und „Nichtwollenkönnen“ sei daher besonders schwierig.

Der zitternde Kriegshysteriker wurde zum Gegenbild des heroisch-maskulinen Soldaten, der mit all seiner Kraft für den Sieg kämpfte. Seine Symptome galten bislang als spezifisch weiblich, weshalb eine Hysteriediagnose auch die Männlichkeit der betroffenen Soldaten in Frage stellte. Sowohl Patienten als auch Militärärzte lehnten den für Militärpersonen ehrwidrigen Begriff der „Hysterie“ weitgehend ab. Aus diesem Grund griffen die Militärpsychiater bei der Erstellung der Diagnose vermehrt auf den Terminus der „Neurasthenie“ zurück, der als Synonym für Nervosität oder Hysterie Verwendung fand. Neurasthenie galt vornehmlich als Männerkrankheit und fasste verschiedene Symptome zusammen: nervöse Erschöpfung, vermehrte Erregung, Reizbarkeit und Depression.

In den ersten beiden Kriegsjahren zählte die Neurasthenie zu den häufigsten psychiatrischen Diagnosen. Ab 1916 rückte sie jedoch zusehends in den Hintergrund und avancierte zu einer schichtspezifischen Erkrankung der Offiziere, zu einer Elitekrankheit der privilegierten Stände. Zur Bezeichnung einer psychogenen Störung des ‚einfachen Soldaten’ wurde ab Herbst 1916 größtenteils der unehrenhafte Begriff der „Hysterie“ verwendet.

Während der Hysteriker eine ‚Persona ingrata’ darstellte, zählte der Neurastheniker, so formulierte es der Nervenarzt Willy Hellpach, zu den „wirklich besten unter den Nervengeschädigten“, weshalb ihm auch eine andere Therapie zuteil werden sollte:

„Der ganze ärztliche Ton, der auf die Hysterie zugeschnitten ist, passt nicht für die Neurasthenie. Der Hysterische braucht die harte Faust, Unerbittlichkeit bis zur Gewaltsamkeit, denn der hysterische Krankheitswille muss […] im überwuchtigen Stoß niedergerungen [werden]. Der Neurastheniker aber braucht Teilnahme, Trost, Zuspruch, ein warmes Herz […], er braucht in der therapeutischen Kleinarbeit alles das, was dem Hysterischen Gift ist und die Hysterie verewigt. Packt man den Neurastheniker an wie den Hysteriker, so läuft man Gefahr ihm zu schaden […] – ihn womöglich zu hysterisieren.“

Die Einordnung von Krankheitssymptomen, die Diagnostik sowie die Verordnung von Behandlungsformen waren also von den jeweiligen Ärzten und ihrem Weltbild abhängig. Herkunft und Stellung des nervenkranken Soldaten spielten bei der ärztlichen Diagnose eine wesentliche Rolle und bedingten, ob dieser als Neurastheniker oder Hysteriker eingestuft wurde.

Bibliografie 

Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 15-134

Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 326-335

 

Zitate:

„Vorteile zu erreichen …“: Wagner-Jauregg, Julius: Erfahrungen über Kriegsneurosen III., in: Wiener Medizinische Wochenschrift (1917), 67, 189, zitiert nach: Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 328

„wirklich besten unter den Nervengeschädigten“: Hellpach, Willy: Therapeutische Differenzierung der Kriegsnervenkranken, in: Medizinische Klinik (1917), 13, 1261, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 45

„Der ganze ärztliche Ton …“: Hellpach, Willy: Therapeutische Differenzierung der Kriegsnervenkranken, in: Medizinische Klinik (1917), 13, 1261, zitiert nach: Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 45

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Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.