Erfahrungen aus früheren Kriegen haben gezeigt, dass die Todesfälle durch Kriegsseuchen bei Weitem die Verluste durch Verwundungen übertrafen. Auch im Ersten Weltkrieg waren die durch Typhus, Ruhr, Cholera, Fleckfieber, Blattern und Malaria verursachten Ausfälle unter den Soldaten erheblich.
Zwischen 1914 und 1917 erkrankten 433.517 Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee an Tuberkulose, 418.588 an Typhus, 402.314 an Ruhr und 331.721 an Malaria, die vor allem in Albanien, Montenegro und nördlich von Venedig auftrat. Auch die Cholera und das Fleckfieber fanden am Balkan sowie in Galizien weite Verbreitung. Die Zahl der Soldaten, die sich mit einer Geschlechtskrankheit infizierten, liegt bei 1,275.885 und übersteigt damit die übrigen Infektionskrankheiten um ein Vielfaches.
Die Mortalitätsrate der Geschlechtskranken war jedoch im Gegensatz zu den anderen genannten Krankheiten sehr niedrig (0,019 %). Die Sterblichkeitsrate betrug bei Cholera 20,8 %, bei Tuberkulose 9,0 %, bei Fleckfieber 8,4 %, gefolgt von Typhus mit einer Mortalitätsrate von 5,8 %. In den ersten drei Kriegsjahren starben ca. 100.000 Soldaten an einer Kriegsseuche. Durch den Ausbruch der Spanischen Grippe im letzten Kriegsjahr verringerte sich die Zahl der österreichisch-ungarischen Soldaten noch einmal.
Mit der Fortdauer des Krieges und dem steigenden Bedarf an Soldaten wurden immer häufiger auch kranke Männer eingezogen, die beispielsweise an geschlossener Tuberkulose litten. Infolgedessen nahm die Zahl der an dieser Krankheit verstorbenen Soldaten rapide zu. Im letzten Kriegsjahr erkrankten 39.877 Militärs und 21.822 Zivilisten der österreichischen Kronländer an dieser lebensgefährlichen Infektion.
Zu den Gefahrenquellen, welche die Ausbreitung von Kriegsseuchen begünstigten, gehörten die ungenügende Assanierung, die unzureichende Beseitigung der Gefallenen sowie die Verlagerung der Truppen, wodurch viele am östlichen Kriegsschauplatz verbreitete Krankheiten bis an die Südwestfront gelangten. Betroffen waren vor allem die Etappen- und Kommandoorte. Außerdem wussten die jeweiligen Sanitätschefs über die Ausbreitung von Krankheiten in den benachbarten Armeeteilen und in den umliegenden Orten oftmals nicht Bescheid. Auch die Unterbringung von Marschformationen in verseuchten Dörfern oder Städten Ostgaliziens und Russisch-Polens trug zur Expansion von Seuchen unter den Truppen der k. u. k. Armee bei.
Die Jahreszeit spielte für die Ausbreitung ebenfalls eine wesentliche Rolle. Während das Fleckfieber eher im Winter auftrat und vor allem in Kriegsgefangenen- und Flüchtlingslagern grassierte, handelte es sich bei Cholera und Ruhr um Sommer- bzw. Herbstkrankheiten. Als Ursache für Cholera und Ruhr galt der unter Soldaten weit verbreitete Verzehr von unreifem Obst, ungekochter Milch, verschimmelten Nahrungsmitteln, verdorbenem Fleisch und verseuchtem Trinkwasser. „Wir bekamen in Fässern halb verfaultes Dörrgemüse, Kraut und eingelegte grüne Bohnen, auf denen ein fingerdicker Belag von Schimmelpilz vorhanden war“, ist im Tagebuch eines Soldaten zu lesen.
Die klassischen Kriegsseuchen waren vor allem an der Ost-, Südost-, und Nordostfront weit verbreitet. Mit den ersten Verwundetenzügen, der Evakuierung weiter Teile Galiziens sowie der Unterbringung kranker Kriegsflüchtlinge und infizierter serbischer bzw. russischer Kriegsgefangener in österreichischen Städten oder Dörfern wurden die Kriegsseuchen jedoch auch für die Bevölkerung im Hinterland zu einer realen Bedrohung.
Biwald, Brigitte: Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Teil 2, Wien 2002
Dietrich, Elisabeth: Der andere Tod. Seuchen, Volkskrankheiten und Gesundheitswesen im Ersten Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 255-275
Zitate:
„Wir bekamen in Fässern …“: Gast, Willibald: Mir selbst zur fortwährenden Erinnerung, 155 und 235. Privatbesitz von Dipl. Ing. Albert Otto, zitiert nach: Biwald, Brigitte: Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Teil 2, Wien 2002, 539
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Kapitel
- Der Krieg als Laboratorium
- Medizin als Waffe
- „ …die Doktoren hatten nicht einmal Schürzen über ihrer Uniform.“
- Von Waffen und Wunden
- ‚Der innere Feind’
- Im Kampf gegen den ‚inneren Feind’
- Die Spanische Grippe von 1918
- Vom Zucken, Zittern und Torkeln
- Zwischen Hysterie und Neurasthenie
- Nervenversager oder Simulanten?