Ende des Krieges wurde die Welt von der bisher schwersten Grippeepidemie heimgesucht, die insgesamt über 25 Millionen Menschen das Leben kostete und damit deutlich mehr Opfer forderte als der Erste Weltkrieg. Obwohl die Influenza nicht – wie angenommen – auf der Iberischen Halbinsel, sondern höchstwahrscheinlich in Amerika ausbrach, wird sie bis heute als „Spanische Grippe“ bezeichnet.
Die Seuche verbreitete sich auf allen Kontinenten, wobei Asien mit rund 21 Millionen Toten am stärksten betroffen war. In Europa starben über zwei Millionen Menschen daran. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Kriegsfolgekrankheit. Die Pandemie erfasste Krieg führende Mächte ebenso wie neutrale Staaten und die Mortalität stand in keiner Beziehung zum Grad der Beteiligung einzelner Länder am Kriegsgeschehen. In Österreich stieg die Zahl der im Jahr 1918 an Spanischer Grippe Verstorbenen auf 18.500, zu Beginn des Jahres 1919 verstarben weitere 2.400 Personen an der Pandemie.
Im Gegensatz zu anderen Epidemien forderte die Spanische Influenza unter den 15–40-Jährigen die meisten Opfer. Die Medizin stand vor einem Rätsel. Weder der Erreger noch die Art der Übertragung waren bekannt, weshalb keine prophylaktischen Maßnahmen getroffen werden konnten. Selbst die Diagnostik bereitete den Ärzten große Schwierigkeiten. Als mögliche Ursachen für die weite Verbreitung der Seuche wurden Nervenschwäche, Mangelernährung und der Kontakt mit infizierten Truppenformationen vermutet. Die Erkrankten wurden von schweren Fieberschüben geplagt. Häufig kam eine sekundäre Infektion mit Staphylokokken hinzu, die zu lebensgefährlichen Lungen- oder Rippenfellentzündungen führten. Die bekannten Arzneimittel wie Aspirin, Chinin oder Pyramidon zeigten keinerlei Wirkung. Schließlich konnten mit der Verabreichung eines bestimmten Antistreptokokkenserums gute Behandlungsfortschritte erzielt werden.
Die Spanische Grippe führte in weiten Teilen zur Lahmlegung des öffentlichen Lebens. Schulen, Kirchen und andere öffentliche Einrichtungen wurden geschlossen. Der Postverkehr kam zum Erliegen. In Wien und München waren derart viele Schaffner und Straßenbahnfahrer an Grippe erkrankt, dass der Straßenbahnbetrieb deutlich eingeschränkt werden musste. Obwohl die Hauptstadt der Donaumonarchie bereits seit September 1918 von der Pandemie betroffen war, kam es erst im Oktober zur Schließung der Schulen.
Die behandelnden Ärzte waren mit der großen Zahl an erkrankten Personen überfordert, weshalb der Wiener Stadtrat zusätzliche Hilfsärzte bestellte. Außerdem wurden den Wiener Ärzten seitens des Kriegsministeriums 100 Militärautos zur Verfügung gestellt, um die Versorgung der kranken Bevölkerung zu gewährleisten. Sowohl die Zivil- als auch die Militärspitäler waren völlig überfüllt. Hinzu kam ein Mangel an Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern, die häufig ebenfalls erkrankt waren. Da die Wiener Behörden keine Anzeigepflicht verordneten, liegen keine exakten Zahlen über die Ausbreitung der Grippe unter der Wiener Bevölkerung vor.
Zu den zahlreichen Opfern, welche die Spanische Grippe in Österreich-Ungarn forderte, zählte auch Egon Schiele. In seinem letzten Brief schilderte er die Sorge um seine schwangere Frau, die ebenfalls an Grippe verstarb. „Liebe Mutter Schiele! Edith erkrankte gestern vor acht Tagen an spanischer Grippe und bekam Lungenentzündung dazu. Auch ist sie im sechsten Monat der Schwangerschaft. Die Krankheit ist äußerst schwer und lebensgefährlich; ich bereite mich auf das Schlimmste vor.“
Biwald, Brigitte: Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Teil 2, Wien 2002
Biwald, Brigitte: Krieg und Gesundheitswesen, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 294-301
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Müller, Jürgen: Die Spanische Influenza 1918/19. Der Einfluß des Ersten Weltkrieges auf Ausbreitung, Krankheitsverlauf und Perzeption einer Pandemie, in: Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph (Hrsg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, Herbolzheim 2003, 321-342
Winkle, Stefan: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf/Zürich 1997
Zitate:
„Liebe Mutter Schiele! …“: Schiele, Egon: Brief, zitiert nach: Biwald, Brigitte: Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Teil 2, Wien 2002, 559
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Kapitel
- Der Krieg als Laboratorium
- Medizin als Waffe
- „ …die Doktoren hatten nicht einmal Schürzen über ihrer Uniform.“
- Von Waffen und Wunden
- ‚Der innere Feind’
- Im Kampf gegen den ‚inneren Feind’
- Die Spanische Grippe von 1918
- Vom Zucken, Zittern und Torkeln
- Zwischen Hysterie und Neurasthenie
- Nervenversager oder Simulanten?