Nervenversager oder Simulanten?

Die psychiatrische Behandlung von Kriegsneurotikern

Psychische Störungen von Soldaten waren in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern in bisher unbekannten Dimensionen verbreitet. Im Umgang und der Behandlung der seelisch Verwundeten gab es jedoch nationale Unterschiede.


 

Während in der deutschen Militärpsychiatrie vornehmlich die Hypnose zur Anwendung kam, galt unter französischen und österreichisch-ungarischen Nervenärzten die Elektrotherapie als beste Therapieform. Die Vielsprachigkeit der Habsburgermonarchie leistete dieser Behandlung Vorschub, da die Verabreichung von elektrischem Strom ohne verbale Verständigung funktionierte. Bei der Hypnose oder anderen suggestiven Verfahren hätten die österreichisch-ungarischen Psychiater hingegen einen Dolmetscher benötigt, um Patienten aus anderen Teilen des Kaiserreichs behandeln zu können.

Auch innerhalb Österreich-Ungarns gab es in den Nervenheilanstalten keine einheitlichen Therapieverfahren. Während man in Graz eher auf Ruhe, Bäderkuren und diätetische Maßnahmen setzte und die Patienten zu handwerklichen Arbeiten aufforderte, waren die elektrischen Zwangsverfahren vor allem in den Wiener Heilanstalten beliebt. Oberstes Ziel aller angewandten Therapien war nicht die vollständige Genesung der Patienten, sondern die Wiederherstellung der militärischen Einsatzfähigkeit der psychisch Verwundeten, denen man häufig einen „Willen zur Krankheit“ unterstellte. Die Kriegsneurotiker standen unter ständigem Simulationsverdacht, weshalb man zu äußerst brutalen Behandlungsmethoden griff.

Besonders die „Kaufmann-Kur“, benannt nach ihrem Entwickler, dem deutschen Psychiater Fritz Kaufmann, zählte zu den gängigsten Methoden zur ‚Therapie’ von seelisch verwundeten Soldaten im Ersten Weltkrieg. Dabei handelte es sich um ein äußerst schmerzhaftes Verfahren, das Suggestion, militärischen Drill und elektrische Folter kombinierte. Die psychisch kranken Patienten wurden unter Anwendung des faradischen Pinsels elektrisiert. Zeigten die Stromschläge, die ihnen an den kranken Körperstellen verabreicht wurden, keine Wirkung, wurde die Schmerzzufuhr erhöht, indem man die Faradisation an Brustwarzen oder Genitalien fortführte. Die Ärzte waren von den Behandlungserfolgen überzeugt. Die elektrischen Schläge brachten die zu beobachtenden Schüttel- und Zittersymptome zum Verschwinden und zwangen den Patienten zur „Flucht in die Gesundheit“. Obwohl die „Kaufmann-Methode“ mehrere Todesopfer forderte, stellte sie die in den österreichischen Nervenheilanstalten am häufigsten angewandte Therapie dar.

In den Augen der Psychiater war jedoch nicht der Krieg die Ursache für die massenhaft auftretenden nervösen Zustände. Sie sahen in ihm vielmehr das auslösende Moment für die psychische Erkrankung von Soldaten, die bereits zuvor eine nervös-seelische Disposition aufgewiesen hatten. Die Ansicht, dass es sich bei den Kriegsneurotikern um ‚degenerierte’ Personen, um „Nervenversager“, ja neuropsychopathische ‚Minderwertige’ handle, stieß unter den Militärpsychiatern auf breite Resonanz, weshalb sie auch vor den äußerst schmerzhaften elektrotherapeutischen Verfahren nicht zurückschreckten. Die elektrische Folter sollte nicht nur der Bekämpfung der ‚echten’ Symptome, sondern auch der Enttarnung von Simulanten und Kriegsverweigerern dienen. Mit der Anwendung brutaler elektrischer Verfahren, die vielmehr als disziplinäre, denn als therapeutische Methoden zu betrachten sind, stellten die behandelnden Nervenärzte die Kriegsinteressen über das Wohl ihrer Patienten. Sie wurden in der Diktion Sigmund Freuds zu „Maschinengewehren hinter der Front“, welche die traumatisierten Soldaten wieder in das Kampfgeschehen zurückschickten. Als publik wurde, dass die schmerzhaften Behandlungsmethoden nicht die gewünschte Rückführungsquote seelisch Verwundeter erzielen konnten, wuchs der öffentliche Widerstand gegen die elektrischen Zwangsverfahren, der nach Kriegsende in der jedoch mit einem Freispruch endenden Anklage des Wiener Psychiaters Julius Wagner-Jauregg gipfelte.

Bibliografie 

Hofer, Hans-Georg: Effizienzsteigerung und Affektdisziplin. Zum Verhältnis von Kriegspsychiatrie, Medizin und Moderne, in: Ernst, Petra/Haring, Sabine A./Suppanz, Werner (Hrsg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 219-242

Hofer, Georg: „Nervöse Zitterer. Psychiatrie und Krieg, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Krieg, Medizin und Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne, Wien 2000, 15-134

Hofer, Hans-Georg: Was waren „Kriegsneurosen“? Zur Kulturgeschichte psychischer Erkrankungen im Ersten Weltkrieg, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 309-321

Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 326-335

 

Zitate:

„Willen zur Krankheit“: Riedesser, Peter/Verderber, Axel: „Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen ilitärpsychiatrie. Frankfurt am Amin 1996, 42f, zitiert nach: Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 328

„Flucht in die Gesundheit“: Eissler, Kurt R.: Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen, Wien 1979, 53, zitiert nach: Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 329

„Maschinengewehren hinter der Front“: Sigmund Freud, in: Eissler, Kurt R.: Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen, Wien 1979, 53, zitiert nach: Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben. Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 330

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.