Medizin als Waffe

Die Instrumentalisierung der Medizin für den Krieg

Der Tätigkeitsbereich der Medizin beschränkte sich nicht ausschließlich auf die Verwundetenversorgung und die Behandlung von Infektionskrankheiten an der Front und im Hinterland. Ihre Einbindung in den Disziplinarapparat des Heeres sowie ihre Beteiligung an der Entwicklung neuer Waffentechniken sind weitere Aspekte der Indienstnahme.


 

Aufgrund der unüberschaubaren Zahl an verwundeten oder infektionskranken Soldaten sowie der kriegsbedingten Ernährungsnot im Hinterland kam der Medizin erhebliche Bedeutung zu. Mit der Behandlung und medizinischen Kontrolle der erkrankten bzw. verletzten Soldaten waren die Ärzte indirekt auch mit der Durchsetzung der soldatischen Disziplin betraut. Die Definition von Krankheit oder Gesundheit lag in ihrer Kompetenz. Militärärzte entschieden darüber, ob und wie lange ein verwundeter Soldat im Lazarett bleiben sollte, ob er zurück an die Front gesandt werden konnte oder seine Heimreise antreten durfte. Die verordneten Therapien waren als militärische Befehle zu verstehen, denen Folge geleistet werden musste. Die Ärzte galten als militärische Vorgesetzte ihrer Patienten. Die Medizin bestimmte über Erkrankung oder Simulation und damit über die Entbindung von der militärischen Disziplin. Vor allem unter den Kriegsneurotikern sowie unter den Gasverletzten wurden viele Simulanten vermutet.

Die unmittelbare Verschränkung von Medizin und Krieg wird besonders bei der Erforschung chemischer Waffen deutlich. Der Einsatz von Kampfgasen bedingte ein umfassendes Wissen über deren Auswirkung auf den menschlichen Körper. Im Tierversuch wurden Kenntnisse über die tödliche Dosis sowie über Beschaffenheit und Folgen der Verletzung gewonnen. Die Erforschung von Therapieverfahren zur Linderung und Behandlung von Gasverletzungen diente gleichzeitig der Entwicklung chemischer Waffen und umgekehrt. Die Grenzen zwischen den beiden Forschungsgebieten waren fließend.

Ein typisches Beispiel für die Einbindung von Medizinern in die Kriegsforschung stellt der Wiener Elektropathologe Stefan Jellinek dar. 1916 erhielt der Experte für Stromunfälle eine Anweisung des Kriegsministeriums, die physiologischen Auswirkungen von elektrischen Hochspannungshindernissen zu untersuchen. Jellinek entwickelte gemeinsam mit Elektrotechnikern der Technischen Hochschule sogenannte „Elektrosperren“. Dabei handelte es sich um elektrisch geladene Drahtverhaue, die als Barriere gegen feindliche Soldaten und Deserteure an der Isonzofront errichtet wurden.

Während des Ersten Weltkrieges erreichte die Instrumentalisierung des medizinischen Wissens für den Krieg neue Dimensionen. Sie erfüllte nicht ausschließlich humanitäre Aufgaben, sondern war direkt in das Kriegsgeschehen eingebunden und maßgeblich an dessen Fortgang beteiligt.

Bibliografie 

Hofer, Hans-Georg: Mobilisierte Medizin. Der Erste Weltkrieg und die Wiener Ärzteschaft, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 302-309

Schwarz, Peter: „Die Opfer sagen, es war die Hölle.“ Vom Tremolieren, Faradisieren, Hungern und Sterben: Krieg und Psychiatrie in Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 326-335

Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph (Hrsg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg. 2. Auflage, Herbolzheim 2003

Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph: Medizin im Ersten Weltkrieg, in: Spilker, Rolf/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 203-215

Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph: Medizin, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 210-219