Während des Ersten Weltkrieges erfuhren viele medizinische Bereiche eine rege Entwicklung. Die Medizin machte sich die spezifischen Verhältnisse zunutze, um wissenschaftliche Erfahrungen zu sammeln und die Forschung voranzutreiben.
Die besonderen Anforderungen, die der Krieg an die Medizin stellte, führten zur Weiterentwicklung verschiedenster medizinischer Verfahren und Forschungen, beispielsweise der Bluttransfusion, der Prothetik, der plastischen Chirurgie sowie der Kampfgas- und Seuchenforschung.
Bereits zu Beginn des Krieges betonten namhafte Vertreter der Ärzteschaft die Möglichkeit, unter den besonderen Bedingungen neue medizinische Erkenntnisse gewinnen zu können. Manche Mediziner sahen im Krieg ein Massenexperiment, eine einmalige Gelegenheit, Grundfragen ihrer Forschung zu klären. Verschiedenste Fachbereiche, darunter die Chirurgie, die Innere Medizin, die Bakteriologie, die Hygiene sowie die Psychiatrie, teilten diese Auffassung.
Der österreichisch-ungarische Frontarzt Karl Kassowitz beschrieb den Ersten Weltkrieg als eine „großangelegte, allgemeine Funktionsprüfung großer Serien von Menschen“, als ein „ungeheures physiologisches Serienexperiment“.
Besonders Hygiene- und Seuchenforscher erhofften sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die in Friedenszeiten nur schwer gewonnen werden konnten.
Der deutsche Hygieniker und Tropenmediziner Carl Mense zeigte sich von der Chance, die der Krieg seinem Forschungsfeld bot, begeistert:
„Vor unseren Augen aber spielt sich der größte Versuch […] ab, den die Einbildungskraft ersinnen kann. Menschen der verschiedensten Zonen werden gegeneinandergeführt und leben und ringen unter den ungünstigsten hygienischen Verhältnissen. Die Völker des Erdballs stellen dadurch ein so riesiges epidemiologisches Experiment auf, wie es die Seuchenforschung nie erträumen konnte.“
Die im Rahmen der Fleckfieberforschung erzielten Ergebnisse verdeutlichen, inwiefern der Erste Weltkrieg die Entwicklung der Medizin, insbesondere der Bakteriologie förderte. Durch genaue Beobachtung von Infektionskranken in Kriegsgefangenenlagern konnte die Laus als einzige Überträgerin des Fleckfiebers identifiziert werden.
Neben der Seuchenforschung gilt die Anwendung der Bluttransfusion als Paradebeispiel für die Modernisierung medizinischer Verfahren im Weltkrieg. Sie war bereits vor dem Krieg bekannt, erfuhr in Europa jedoch erst während des Krieges weite Verbreitung. Mit den Soldaten waren erstmals genügend Blutspender verfügbar, sodass die Versorgung der zahlreichen Verwundeten mit Spenderblut gewährleistet werden konnte. Am Ende des Krieges war die Technik der Bluttransfusion bereits so weit fortgeschritten, dass sie in kürzester Zeit zum Routineverfahren wurde und auch in der zivilen Medizin zum Einsatz kam.
In Anbetracht des kriegsbedingten Erkenntnisgewinns, der von Ärzten nach dem Krieg immer wieder betont wurde, ist man versucht, die Medizingeschichte im Ersten Weltkrieg primär als eine ‚Erfolgsgeschichte‘ zu lesen. Viele Bereiche der medizinischen Forschung oder Pflege hatten jedoch unter den Verhältnissen massiv zu leiden und selbst die Forschungsdirektiven wurden maßgeblich von den militärischen Interessen bestimmt. So gesehen wurde die Medizin für den Krieg instrumentalisiert und nicht umgekehrt der Krieg für die Medizin in Dienst genommen.
Dietrich, Elisabeth: Der andere Tod. Seuchen, Volkskrankheiten und Gesundheitswesen im Ersten Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 255-275
Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph: Medizin im Ersten Weltkrieg, in: Spilker, Rolf/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 203-215
Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph: Medizin, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 210-219
Hofer, Hans-Georg: Mobilisierte Medizin. Der Erste Weltkrieg und die Wiener Ärzteschaft, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 302-309
Cooter, Roger/Sturdy, Steve: Of War, Medicine and Modernity: Introduction, in: dies u. Harrison, Mark (Hrsg.): War, Medicine and Modernity, Stroud 1998, 1-21
Zitate:
„großangelegte, allgemeine Funktionsprüfung …“: Kassowitz, Karl: Der österreichisch-ungarische Truppenarzt an der Front, in: Volksgesundheit im Krieg. Bd. 6, Teil 1, 141, zitiert nach: Dietrich, Elisabeth: Der andere Tod. Seuchen, Volkskrankheiten und Gesundheitswesen im Ersten Weltkrieg, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 2011, 269
„Vor unseren Augen aber …“: Mense, Carl: Zum neuen Jahre, in: Archiv für Schiffs- und Tropen-Hygiene (1915), 19/1, zitiert nach: Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph: Medizin im Ersten Weltkrieg, in: Spilker, Rolf/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Eine Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“ 17. Mai – 23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, 206
-
Kapitel
- Der Krieg als Laboratorium
- Medizin als Waffe
- „ …die Doktoren hatten nicht einmal Schürzen über ihrer Uniform.“
- Von Waffen und Wunden
- ‚Der innere Feind’
- Im Kampf gegen den ‚inneren Feind’
- Die Spanische Grippe von 1918
- Vom Zucken, Zittern und Torkeln
- Zwischen Hysterie und Neurasthenie
- Nervenversager oder Simulanten?