Facetten der kindlichen Wahrnehmung im Krieg

Obgleich zahlreiche Maßnahmen auf eine einheitliche Mobilisierung der Kinder abzielten, erlebten diese den Kriegsverlauf sehr unterschiedlich. Mit Fortdauer des Krieges entzogen sie sich zunehmend dem propagandistischen Einfluss und entwickelten ihre eigene Sicht auf das Geschehen.


 

Bei genauer Betrachtung autobiografischer Quellen von Kindern wird deutlich, dass Kinder während des Krieges sehr unterschiedliche Erfahrungen machten. Abhängig von ihrem Alter, ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit, familiären Situation und regionalen Herkunft erlebten sie beispielsweise den Mangel – einen ausführlich behandelten Themenkomplex in vielen Kindheitserinnerungen –  abhängig vom sozioökonomischen Status der Familie. In bäuerlichen Gebieten waren Hunger und Not meist in geringerem Ausmaß und erst später spürbar als in den urbanen Zentren. Ebenso stieß die auf Kinder abzielende Kriegskultur (Spiele, Bücher, Zeitschriften) in bürgerlichen Schichten auf stärkere Resonanz als in städtischen Unterschichten und im ländlichen Milieu.

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der Krieg teilweise eine relativ geringe Rolle in lebensgeschichtlichen Quellen über die Kindheit einnimmt und sich Erinnerungen an den Krieg mit denen an die Nachkriegsjahre überschneiden – offenbar glichen sich viele der Erfahrungen der Kriegsjahre, wie Mangel und Entbehrung, mit denen der Folgejahre.

Kinder, die aus den jetzt gegnerischen Staaten kamen – sogenannte „Feindkinder“ – erlebten im Krieg täglich Diskriminierungen und Schikanen. Übergriffe und Auseinandersetzungen, nicht nur zwischen Kindern, sondern auch von Erwachsenen gegenüber Kindern und deren Familien, prägten auch noch die Jahre nach den Friedensverhandlungen. So war es beispielsweise deutschen und belgischen Kindern im jeweils anderen Land noch bis 1924 untersagt, öffentliche Schulen zu besuchen.

Jugendliche wiederum, die sich als Kriegsfreiwillige gemeldet hatten, kehrten desillusioniert von der Front zurück. Ihre Hoffnung, als Kriegsheld gefeiert zu werden, wich psychischer Belastung und physischer Verwundung. Mit den Jahren Zeit verloren Kinder und Jugendliche das Interesse am Krieg. In Spielen, Büchern und Zeitschriften verlor die Propaganda an Intensität und auch im Unterricht wurde weniger über den Krieg gesprochen. Ab 1917 wurde er in der Schule zu einem Randthema und auch mit Kriegsende war im Unterricht kein neu aufkeimender Patriotismus erkennbar.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich Kinder den propagandistischen Botschaften durchaus widersetzten. Bezeichnend wurden Kinder im Hungerwinter 1916/17 zu Akteuren des Protests. Angetrieben von Hunger und Mangel kam es immer häufiger zu Hungerdemonstrationen und Lebensmittelkrawallen. An ihnen waren in großem Ausmaß Kinder und Jugendliche beteiligt. So schildert ein Polizeibericht vom Jänner 1917, dass in Hernals ein Zug von 150 bis 300 Frauen und Kinder vor das Magistratische Bezirksamt und das Kriegsministerium zog, um gegen die katastrophale Versorgungslage zu protestieren.

Bibliografie 

Hämmerle, Christa (Hrsg.): Kindheit im Ersten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 1993

Healy, Maureen:Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004, 211-257

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?