Der Krieg als „technoromantisches Abenteuer“

Karl Kraus hat die neuen Bedingungen für die Entfaltung heroischer Haltungen bzw. den Verlust der männlich-militärischen Attitüde im technisierten Krieg treffend umrissen. Er bezeichnet den Ersten Weltkrieg als ein „technoromantisches Abenteuer“, in dem sich die Tapferkeit mit der Technik eingelassen hat und die Auseinandersetzung der Muskelkräfte obsolet geworden ist.

Über das Schicksal der Soldaten entscheidet der „Zufall eines Minentreffers, einer Luftbombe oder eines Torpedos“. Obwohl der altmilitärische Ehrbegriff in „chlorreichen“ Auseinandersetzungen an Bedeutung verliert und es nur noch auf „die Wirksamkeit der beiderseitigen Chemie“ ankommt, glorifiziert die „mitgeschleppte“ Ideologie althergebrachte Werte und Männlichkeitsideale, wie etwa eine bunte Tracht „und die Pflicht, angesichts des Vorgesetzten die Hand an die Stirn zu führen“. Kraus mokiert sich darüber, dass die „unsterbliche“ Ideologie immer noch die „Auseinandersetzung der Muskelkräfte“ beschwört und versucht, in „Schmutz und Elend“ Raum zu finden für Disziplin und Ehre, für ein Spiel der mittelalterlichen Formen.

Ungeachtet der Technisierung und Mechanisierung des Krieges wird das heroisch-martialische Männlichkeitsideal nicht nur in der Propaganda und in legendenbildenden Berichten der Kriegsteilnehmer, sondern auch in Literatur und Kunst aufgegriffen. Im Sinne der Diagnose von Karl Kraus inszeniert die österreichische Literatur männliche „technoromantische Abenteuer“, die sowohl ins National-Aggressive zugespitzt werden (wie in Bodo Kaltenboecks Armee im Schatten (1932) und verschiedenen Darstellungen der Isonzo-Schlachten) als auch eine nostalgisch-emotionale Geschichte darstellen, in der sich das Kriegserlebnis auf Frauenverführung und den Umgang mit Symbolen und Ritualen reduziert.

Im Roman von Alexander Lernet-Holenia Die Standarte (1934), der eines der bekanntesten Beispiele von militärischer Nostalgie ist, wird der Glanz der ehemaligen Offiziersehre als „der habsburgische Mythos“ (C. Magris) rehabilitiert. Im Mittelpunkt der Narration steht ein kaisertreuer Offizier, der die Standarte hütet, auch wenn die Regimenter meutern, die Armee sich auflöst und die Habsburgermonarchie untergeht: „Aber schließlich berührte ich doch den Brokat, als griffe ich in die Locken einer Braut (…)“. Begleitet wird er bei seiner Flucht nach Wien von einer Frau, die gleichsam mit der Fahne konkurriert. Er wirft schließlich die Standarte ins Feuer und kehrt zu der Partnerin zurück, die ihm als einzige Stütze geblieben ist in den Trümmern einer Welt, die er für unzerstörbar erachtete. Der kaisertreue galante Offizier schwankt stets zwischen Fraueneroberung und Fahnenerotik. Lernet-Holenia kreiert einen aristokratisch-kavalleristischen Männlichkeitstypus, der keine aggressive Virilität repräsentiert und den Qualitäten des harten Kämpfers nicht ganz entspricht. In seinem Kriegsuniversum erobert sich die Frau letztlich einen prominenten Platz, aber nach dem Krieg kann sich der ehemalige Offizier der zivilen Lebensform in Ehe und Familie nicht restlos hingeben. Er findet Anschluss an das homosoziale Netz von Veteranen und sucht immer wieder nach seiner militärischen Vergangenheit und deren Repräsentationen.

Bibliografie 

Eicher, Thomas: Das Heimkehrermotiv in Lernet-Holenias „Standarte“. Zu einem literarischen Topos der Zwischenkriegszeit, in: Eicher, Thomas/Gruber, Bettina (Hrsg.): Alexander Lernet-Holenia. Poesie auf dem Boulevard, Köln/Weimar/Wien 1999, 113-130

Theel, Robert: „Die Maschine hat den Helden getötet“. Beobachtungen zu direkten und indirekten Verwendungen des Mentalitätsbegriffs in fiktionalen und essayistischen Texten vor und während des 1. Weltkrieges im Hinblick auf den Heroismusbegriff (Nowak, Soyka, Kraus, Unruh, Marinetti, Rilke), in: Krieg und Literatur/War and Literature 9 (1993), 97-118

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?

  • Entwicklung

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