Antimilitarismus in Böhmen: „Wer tauglich ist, wird Sklave“

Wie ambivalent und kompliziert das Verhältnis zwischen Militär, Politik und Gesellschaft innerhalb der multinationalen Habsburgermonarchie war, veranschaulicht die „antimilitaristische“ Bewegung in Böhmen.

Innerhalb deutschnationaler Kreise galten tschechische Soldaten als illoyale Kriegsverweigerer, als unzuverlässige, durch antimilitaristische Propaganda aufgewiegelte und destruktive Kraft mit armeefeindlicher Haltung. Diese Zuschreibung hatte jedoch – in Anbetracht der problemlosen Mobilisierung zu Beginn des Weltkrieges – mit der Realität wenig zu tun. Die große Mehrheit der Tschechen kämpfte loyal aufseiten der Monarchie.

Doch wie kam das Bild des illoyalen Tschechen zustande? In diesem Zusammenhang spielte der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Böhmen entwickelnde Antimilitarismus eine bedeutende, wenn auch hauptsächlich symbolische Rolle. Seine Vertreter lehnten das Militär nicht generell ab, sondern kritisierten viel eher dessen konkrete Ausgestaltung. In dieser Kritik taten sich besonders die Volkssozialisten (Česká strana národně sociální, ČSNS) hervor. Ausschlaggebend waren für sie zwei Elemente: Zum einen bevorzugte die ČSNS wie die Mehrzahl der Linksparteien das Milizsystem anstelle der Allgemeinen Wehrpflicht – was vonseiten der Obrigkeit aufgrund des umstürzlerischen Potenzials abgelehnt wurde –, zum anderen traten zunehmend nationale Spannungen hervor. Der Antimilitarismus der ČSNS diente in erster Linie der öffentlichen Profilierung und als Vehikel zur Durchsetzung nationaler Interessen. Denn während man Ungarn mit dem Ausgleich von 1867 eine Reihe von militärpolitischen Souveränitätsrechten einräumte, wurden die Tschechen diesbezüglich völlig übergangen. Hinsichtlich militärischer Angelegenheiten konnten sie weder eine regional gegliederte Landwehr – nach Vorbild der ungarischen Honvéd – noch tschechisch als Befehlssprache durchsetzen. Als im Jahr 1898 einigen Reservisten mit Konsequenzen gedroht wurde, weil sie sich anstatt mit dem deutschen „Hier“ beharrlich mit dem tschechischen „Zde“ meldeten, wurde vonseiten der ČSNS heftige Kritik laut. Die ČSNS positionierte sich als Vertreterin tschechischer Rechte innerhalb der Monarchie – unter anderem auch, indem sie die deutsch dominierte Armee kritisierte.

In Fragen des Antimilitarismus tat sich die Jugendorganisation der ČSNS besonders hervor. Über Zeitschriften und Flugblätter wurden Soldaten dazu aufgerufen, während ihrer Assentierung (Aufnahme in das Heer) mit Protesten auf sich aufmerksam zu machen – was zuweilen auch geschah. So inszenierten Männer aus Babice im Jahr 1905 ihre Assentierung als karnevalesken Trauerzug. Auf dem mitgeführten, schwarz beflaggten Wagen wurden Transparente angebracht, auf denen geschrieben stand: „Die Armee, das Grab unserer Jugend, der Kerker unserer Freiheit“ oder „Wer tauglich ist, wird Sklave“. Solche Umzüge fanden durchaus Nachahmung, doch entwickelten sie sich bei Weitem nicht zum Standard. Martin Zückert weist diesbezüglich darauf hin, dass das Militär hier eine „[...] Plattform für symbolische Handlungen des Protests“ bot, wobei sich rund um die Einberufung „Übergangsriten“ entwickelten, „die den Abschied von der Jugend zum Ausdruck bringen sollten“.

Weitere antimilitaristische Aktionen bildeten der 1907 abgehaltene Erste Antimilitaristische Kongress in Prag sowie die böhmischen Antikriegsdemonstrationen im Zuge der Annexion Bosnien-Herzegowinas. Nachdem sich 1909 Soldaten öffentlich dazu bekannt hatten, keinesfalls auf Serben zu schießen, begannen die Behörden konsequent gegen die führenden Antimilitaristen der ČSNS vorzugehen. In einem großen Prozess kam es zu 44 Verurteilungen und in der Folge zur Auflösung der antimilitaristischen Organisationen. 

All diese Entwicklungen mögen das Bild vom illoyalen Tschechen geprägt haben, doch ist gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass der böhmische Antimilitarismus auf ein kleines Milieu beschränkt blieb. Dies zeigt, wie schon anfangs erwähnt, die problemlose Mobilisierung zu Kriegsbeginn. Auch war die bürgerliche Mehrheit an einer nationalen Stärkung im militärischen Sektor, nicht jedoch am nationalen Antimilitarismus der ČSNS interessiert.

Bibliografie 

Zückert, Martin: Antimilitarismus und soldatische Resistenz. Politischer Protest und armeefeindliches Verhalten in der tschechischen Gesellschaft bis 1918, in: Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hrsg.): Glanz, Gewalt, Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1880 bis 1918), Essen 2011, 199-220

 

Zitate:

„Die Armee, das Grab unserer Jugend...": zitiert nach: Zückert, Martin: Antimilitarismus und soldatische Resistenz. Politischer Protest und armeefeindliches Verhalten in der tschechischen Gesellschaft bis 1918, in: Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hrsg.): Glanz, Gewalt, Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1880 bis 1918), Essen 2011, 199

"[...] Plattform für symbolische Handlungen...": ebd., 214

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Aspekt

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Personen, Objekte & Ereignisse

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  • Objekt

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  • Entwicklung

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Entwicklungen

  • Entwicklung

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    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.

  • Entwicklung

    Der starke Staat und der Untertan: Obrigkeitsdenken und Klassengesellschaft

    Die Klassengesellschaft der Habsburgermonarchie war von strengen Hierarchien geprägt. Es herrschten enorme Unterschiede zwischen Arm und Reich. Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen sowie Frauen generell standen in existenziellen sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen.