Tod durch eigene Hand. Soldatenselbstmorde, parlamentarische Anfragen und der Pathologisierungsdiskurs des Militärs

Welche Auswirkungen die oftmals brutale Abrichtung der Soldaten haben konnte und wie das Militär immer weitere Gesellschaftsbereiche vereinnahmte, veranschaulichen die parlamentarischen Interpellationen wegen der Soldatenselbstmorde in der k. k. Armee. Den Suiziden gingen vielfach Misshandlungen voraus. Die Militärbehörden versuchten den Vorwürfen zu entgehen, indem sie sich des zeitgenössischen psycho-physiologischen Pathologisierungsdenkens bedienten.

Mit der Wahlrechtsreform des Jahres 1907 war das Kurienwahlrecht abgeschafft. Die im selben Jahr stattfindende Reichsratswahl brachte in der österreichischen Reichshälfte eine massive Umschichtung zugunsten der sozialdemokratischen und christlichsozialen Massenparteien. In der Folge zeichneten sich die Sozialdemokraten durch eine Vielzahl parlamentarischer Anfragen zu den erschreckend hohen Selbstmordraten innerhalb der k. k. Armee aus. Der sozialdemokratische Abgeordnete Hermann Liebermann formuliert den Anspruch seiner Partei in einer Reichsratssitzung von November 1913 folgendermaßen: „Wir Abgeordneten haben die Pflicht, die Söhne und Kinder des Volkes zu beschützen. (Beifall und Händeklatschen) [...] und wir werden die Schäden aufdecken, an denen viele junge Soldaten zugrunde gehen [...], wir werden mit den Fingern auf diese Wunde hinweisen, wir werden oft von den Ursachen der Selbstmorde sprechen“. Zwischen 1907 und der Sistierung des Reichsrats 1914 wurden in einer Vielzahl von Anfragen die Soldatenmisshandlungen, die Schikanen und Sekkaturen durch die Vorgesetzten angeprangert. Auch die kritische Presse berichtete zusehends von diesen Missständen und dem „Unwesen des Militarismus“.

Die Militärbehörden reagierten auf diese parlamentarischen Anfragen mit einer Pathologisierung der Suizidenten. Nicht die Methoden der soldatischen Abrichtung seien die Ursache für die „Selbstentleibungen“ – so die Argumentation –, sondern die Disposition der Selbstmörder. Hier berief man sich auf die Studien des Gerichtsmediziners Hermann Pfeiffer, der in einer seiner Schriften festhielt „[...] daß wir in der Erscheinung des Selbstmordes nichts anderes vor uns haben als eine abnorme Reaktion von kranken Menschen auf äußere oder innere Insulte, die der geistig und körperlich Gesunde mit energischen Abwehrmaßregeln beantworten würde“. Dieser Auslegung folgt auch der k. k. Landesverteidigungsminister General Friedrich Freiherr von Georgi. So hätten Obduktionen festgestellt, dass Selbstmörder organische Anomalien aufwiesen, die ihren Hang zur „Selbstvernichtung“ erklären würden. Bei „Irrsinn“ und „Geisteskrankheit“ – die „[...] mit dem militärischen Dienst in keinem Zusammenhang stehen“ – sei die Heeresverwaltung „größtenteils machtlos“.

Diese Pathologisierungsstrategie hatte jedoch bei den Reichstagsabgeordneten nur mäßigen Erfolg. Man wusste, dass einem hohen Anteil der Suizidfälle Misshandlungen vorangegangen waren. Das geringe Strafmaß, mit dem die Vorgesetzten bei Bekanntwerden der Soldatenmisshandlung zu rechnen hatten, wurde auch vonseiten einiger Offiziere kritisiert.

Dessen ungeachtet gingen die Militärbehörden 1913/14 in die Offensive: Georgi appellierte an die Zivilbevölkerung, dass diese die angehenden Soldaten nicht mit „Schreckensmeldungen“ über den Heeresdienst psychisch destabilisieren solle. Insbesondere antimilitaristische Artikel und bösartige Lügenmärchen der Zeitungen würden nicht nur die Rekruten verunsichern, sondern auch die Institution des Militärs an sich diffamieren.

Bibliografie 

Leidinger, Hannes: Suizid und Militär. Debatten – Ursachenforschung – Reichsratsinterpellationen 1907-1914, in: Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hrsg.): Glanz, Gewalt, Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1880 bis 1918), Essen 2011, 337-358

 

Zitate:

"Wir Abgeordneten haben die Pflicht...": Sten. Prot. AH RR, 181. Sitzung der XXI. Session vom 28.11.1913, zitiert nach: Leidinger, Hannes: Suizid und Militär. Debatten – Ursachenforschung – Reichsratsinterpellationen 1907-1914, in: Cole, Laurence/Hämmerle, Christa/Scheutz, Martin (Hrsg.): Glanz, Gewalt, Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1880 bis 1918), Essen 2011, 345

"[...] daß wir in der Erscheinung des Selbstmordes...": Peiffer, Hermann, zitiert nach: ebd., 351

"[...] mit dem militärischen Dienst...": Sten. Prot. AH RR, 199. Sitzung der XXI. Session vom 23.1.1914, zitiert nach: ebd., 352

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.

Entwicklungen