Die Totalisierung des Militärs. Der Erster Weltkrieg und die Ausnahmeverfügungen

Der Beginn des Ersten Weltkrieges und die in diesem Zusammenhang in Kraft gesetzten Ausnahmeverfügungen führten zu einer bisher unbekannten Dimension der Militarisierung. Die staatsbürgerlichen Grundrechte wurden massiv beschnitten, Zensur und Propaganda kontrollierten die öffentliche Meinung, Wirtschafts- und Verwaltungskompetenzen verschoben sich in Richtung der Militärbehörden und die Militärjustiz griff in den zivilen Bereich ein.

Mit der Mobilisierung im Juli 1914 traten in der Donaumonarchie die sogenannten Ausnahmeverfügungen in Kraft, die folgenreiche Auswirkungen auf die Gesellschaft haben sollten. Hierdurch erhielten die Militärbehörden eine Reihe von Verwaltungs- und Wirtschaftskompetenzen, was zu einer drastischen Einschränkung der staatsbürgerlichen Grundrechte führte. Aufgrund der Sistierung des Wiener Reichsrates war die österreichische Reichshälfte von dieser Entwicklung besonders betroffen. Denn während das ungarische Parlament weiterhin zusammentrat, war die österreichische Reichshälfte zwischen März 1914 und Mai 1917 ohne jegliche parlamentarische Kontrolle. Der Regierung Stürgkh kam diese Situation jedoch nicht zugute. Aufgrund der fehlenden politischen Legitimation büßte sie gegenüber den Militärbehörden schnell an Autorität ein. Die Kompetenzen der Militärverwaltung wurden dahingegen stark erweitert. Ihr unmittelbarer Machteinfluss umfasste neben der Kriegsfront immer weitere Bereiche der Heimatfront im Hinterland. „Anders als in der ungarischen Reichshälfte“, bewertet Christoph Tepperberg diese Entwicklung, „herrschten in Österreich bis 1917 Verhältnisse, die einer Militärdiktatur ziemlich nahe kamen.“

An der Errichtung dieser „Beinahe-Diktatur“ waren eine Reihe von militärischen Institutionen von zentraler Bedeutung. So überwachte das Kriegsüberwachungsamt (KÜA) die korrekte Umsetzung der Ausnahmeverfügungen in den verschiedenen Ämtern und Behörden. Das Kriegsministerium (KM) war unter anderem für den großen Bereich der Kriegswirtschaft zuständig und das k. u. k. Armeeoberkommando (AOK) dehnte seine Aufgaben von der Front auf immer weitere Gebiete aus. Den sogenannten Höchstkommandierenden des AOK wurde das Befehls- und Verordnungsrecht von Landeschefs übertragen. Zwecks Durchsetzung militärischer Interessen wurden bereits zu Kriegsbeginn Höchstkommandierende in Dalmatien, Galizien, der Bukowina sowie in Teilgebieten Schlesiens und Mährens eingesetzt. Nach dem Kriegseintritt Italiens wurde dieses System militärischer Landesverwaltung auch in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Görtz, Gradiska und Triest eingeführt. 

Durch die Ausnahmeverfügungen von 1914 drang auch die Militärgerichtsbarkeit in immer weitere Bereiche des zivilen Lebens vor. Aktiv wurde die Militärjustiz bei einer ganzen Reihe von Straftaten. Hierzu zählten der Hochverrat, Kapitalverbrechen gegen Militärangehörige, Beihilfe zur Desertion, gefährliche Drohung gegen Amtspersonen, Majestätsbeleidigung und die Störung der öffentlichen Ruhe. Kennzeichnend für die Militärjustiz war ihre rigorose und harte Spruchpraxis, von der nun auch zusehends Zivilisten betroffen waren. Neben den oben angeführten Vergehen kam die Militärjustiz auch dann zur Anwendung, wenn aufgrund von Kriegshandlungen Zivilgerichte nicht mehr zur Verfügung standen. Auch unterstanden all jene Männer der Militärjustiz, die in Rüstungsbetrieben oder militärisch geführten Verkehrsbetrieben arbeiteten. Darüber hinaus unterlagen sie noch dem äußerst strengen militärischen Disziplinarrecht.

Die militärische Durchdringung immer weiterer Lebensbereiche konnte nur durch einen massiven Ausbau der dazu benötigten Infrastrukturen funktionieren. So führten der stete Personalzuwachs und der Ausbau neuer Abteilungen dazu, dass das k. u. k. Kriegsministerium neben dem 1913 bezogenen Gebäude am Stubenring über 80 zusätzliche Räumlichkeiten anmieten musste.

Bibliografie 

Tepperberg, Christoph: Totalisierung des Krieges und Militarisierung der Zivilgesellschaft. Militärbürokratie und Militärjustitz im Hinterland, Das Beispiel Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 264-273

 

Zitate:

„Anders als in der ungarischen...": Tepperberg, Christoph: Totalisierung des Krieges und Militarisierung der Zivilgesellschaft. Militärbürokratie und Militärjustitz im Hinterland, Das Beispiel Wien, in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 272

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Ereignis

    Sistierung des österreichischen Reichsrates

    Das Parlament der österreichischen Reichshälfte wird auf unbestimmte Zeit vertagt und somit ausgeschaltet. Die Regierung herrscht mit Hilfes des "Notstandsparagrafen" und führt ein bürokratisch-autoritäres Regime ein.

  • Objekt

    Überwachung & Kontrolle

    Der Alltag in der Habsburgermonarchie war von Propaganda, Überwachung und Kontrolle gekennzeichnet. Die vielen „weißen“ Flecken in den Tageszeitungen zeugen davon ebenso wie Eingriffe in private Briefe und Telegramme. Gleichzeitig wurde durch Bild, Text und Ton versucht, ein einheitliches und kriegsbejahendes Stimmungsbild zu verbreiten. Ausgeschlossen davon waren nicht einmal die jüngsten Bewohner des Reiches; auch die Schulen der Monarchie wurden zu Orten der staatlichen Einflussnahme.

  • Entwicklung

    Der starke Staat und der Untertan: Obrigkeitsdenken und Klassengesellschaft

    Die Klassengesellschaft der Habsburgermonarchie war von strengen Hierarchien geprägt. Es herrschten enorme Unterschiede zwischen Arm und Reich. Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen sowie Frauen generell standen in existenziellen sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?