Die Allgemeine Wehrpflicht als ‚Fundamentalmilitarisierung’ der Gesellschaft

Mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht begann die fundamentale Militarisierung der Gesellschaft in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Parallel dazu wandelte sich das Militär in der öffentlichen Wahrnehmung vom zwielichtigen Ort der zwangsrekrutierten Unterschichten zur angesehenen „Schule der Nation“.

Die im Jahr 1868 eingeführte Allgemeine Wehrpflicht bildet den bisher wohl bedeutendsten Dreh- und Angelpunkt in der militärischen Durchdringung des Habsburgerreiches. Die Beweggründe für deren Einführung waren vielfältig. Einerseits bildet sie den vorläufigen Endpunkt in den verschiedenen Rekrutierungspraktiken, zum anderen war sie Ergebnis zweier konkreter militärisch-politischer Anlässe: der Niederlage gegen das überlegene Preußen in der Schlacht von Königgrätz (1866) sowie des Ausgleichs mit Ungarn (1867). Während der Ausgleich eine rechtliche und administrativ-organisatorische Neuorganisation nötig machte, zeigte die Niederlage bei Königgrätz, wie sehr man hinter den militärischen Standard Preußens zurückgefallen war. Aus diesem Grund wurde mit kaiserlichem Dekret (1866) die Durchführung einer umfassenden Heeresreform angeordnet. Um die Schlagkraft der Armee zu erhöhen und dem Ausgleich mit Ungarn gerecht zu werden, sollte die Organisation des Militärs auf völlig neue Beine gestellt werden. Ein besonders wichtiger Bestandteil der Heeresreform stellte die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht dar. Die seit 1867 parlamentarisch diskutierte Reform wurde 1868 vom Parlament beschlossen.

Die Allgemeine Wehrplicht löste das selektive Konskriptions- und Werbebezirkssystem ab. Während das Konskriptionssystem zahlreiche Befreiungen für die besitzenden und gebildeten Schichten, wie den Adel, die Geistlichen, Bürger, Handwerker, Händler und Großbauern vorsah, wurde nun die männliche Bevölkerung aller Stände und Bevölkerungsklassen zum dreijährigen Militärdienst verpflichtet. Das Militär rekrutierte sich nicht mehr nur aus den sozialen Rand- und Unterschichten, sondern wurde zum Spiegelbild der männlich dominierten Gesellschaftsverhältnisse.

Hierdurch wurde die ehemals scharfe Trennlinie zwischen ziviler und militärischer Welt aufgehoben. Die Fundamentalmilitarisierung der Gesellschaft begann. Der Militärdienst gestaltete sich zu einer obligatorischen Durchgangsphase im Lebenslauf junger Männer. Darüber hinaus wurde er zum privilegierten Ort staatsbürgerlicher Erziehung im Sinne der monarchisch-konservativen Ideologie. Während durch die Etablierung der Stehenden Heere der Prozess der Staatenbildung vorangetrieben wurde, dynamisierte die Allgemeine Wehrpflicht die Nationsbildung. Im Militärdienst hatten die Männer einer „übergeordneten Sache“ – dem Staat, dem Vaterland – zu dienen. Das Militär wurde zum Ort der militärisch-patriotischen Vergemeinschaftung, zu einem Ort von potenziell integrativer Wirkung, der das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der wehrpflichtigen Männer förderte. Parallel dazu stieg auch die Bedeutung seiner exkludierenden Funktion: Frauen und Untaugliche waren vom patriotischen Dienst am Vaterland ausgeschlossen.

Darüber hinaus führte die Allgemeine Wehrpflicht zu einer bedeutenden Umwertung der Institution des Militärs. Es war nicht mehr der übel beleumdete Ort zwangsrekrutierter Unterschichten, sondern wandelte sich zu einem hoch angesehenen und allgegenwärtigen Bestandteil der Gesellschaft. Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass die Uniform im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends zum äußerst respektablen und den männlichen Körper schmückenden Kleidungsstück avancierte. Die Desertion, die während des Konskriptionssystems noch von vielen als lässliche Sünde angesehen wurde, wandelte sich zum verwerflichen „Verrat am Vaterland“. Auch starben die Soldaten beim Ableisten ihrer „patriotischen Pflicht“ nun im „Feld der Ehre“, wobei sich der Staat für seine gefallenen „Helden“ zu revanchieren wusste, indem er ihnen – wenn auch vielfach verspätet – Kriegerdenkmäler setzte. Welch „tiefer Sinn“ in diesen Denkmälern lag, verdeutlicht etwa eine Ansprache Kaiser Franz Josephs zur Enthüllung des Hesser-Denkmals im Jahre 1909, das im Rahmen der Jahrhundertfeierlichkeiten zur Schlacht von Aspern enthüllt wurde. Das Denkmal, so Franz Joseph, gebe „[...] Zeugnis von der dynastischen Treue, der Liebe zum Vaterland und der unverbrüchlichen Kameradschaft [...]. Möge die todesmutige Tapferkeit der Vorfahren von 1809 dem braven Regiment in aller Zukunft voranleuchten.

Bibliografie 

Hochedlinger, Michael: Militarisierung und Staatenverdichtung. Das Beispiel der Habsburgermonarchie in der frühen Neuzeit, in: Kolnberger, Thomas/Steffelbauer, Ilja/Weigl, Gerald (Hrsg.): Krieg und Akkultuaration, Wien 2004, 107-129

 

Zitate:

"[...] Zeugnis von der dynastischen Treue...": zitiert in: Die Neue Zeitung. Illustriertes unabhängiges Tagblatt, am 14.5.1909, 5

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Ereignis

    Österreich im Krieg gegen Preußen und Italien

    Die Niederlage von Königgrätz bedeutet einen herben Rückschlag für das Reich der Habsburger. Das Ergebnis: Österreich verliert Venetien an Italien und die Führungsrolle innerhalb der deutschen Staaten an Preußen.

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der starke Staat und der Untertan: Obrigkeitsdenken und Klassengesellschaft

    Die Klassengesellschaft der Habsburgermonarchie war von strengen Hierarchien geprägt. Es herrschten enorme Unterschiede zwischen Arm und Reich. Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen sowie Frauen generell standen in existenziellen sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen.