Élyen a Magyar – Lang lebe der Magyare! Die ungarische Magyarisierungspolitik

Einer der fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Teilstaaten der Doppelmonarchie nach dem Ausgleich von 1867 bestand darin, dass sich Ungarn, anders als die österreichische Reichshälfte, nicht als Vielvölkerreich definierte, sondern als magyarischer Nationalstaat.

Entgegen der bunten ethnischen Zusammensetzung des Landes – in Ungarn lebten außer Magyaren in großer Zahl auch Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Deutsche, Serben und Kroaten – legte Budapest fest, dass alle Staatsbürger des Königreiches gleichberechtigte Mitglieder der Ungarischen Nation seien, egal welcher Sprachgruppe sie angehörten. Die anderen Ethnien wurden nur als sprachliche Minderheiten mit beschränkten nationalen Rechten gesehen. Von offizieller Seite wurde ihnen ein deutliches Bekenntnis zum politischen Ungartum abverlangt.

Mit stark chauvinistischen Untertönen lehnte der magyarische Nationalismus die Forderungen der anderen Nationalitäten entschieden ab. Die Staatsgewalt reagierte mit bürokratischen Mitteln, mitunter aber auch mit der brutalen Unterdrückung von nationalen Agitationen unter den ethnischen Minoritäten und verbot wiederholt verschiedene Minderheitenorganisationen. Unter der Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Tisza wurde die Magyarisierungspolitik in den Jahren 1875 bis 1890 mit ihrer systematischen Unterdrückung der nationalen Emanzipation der kleineren Sprachgruppen innerhalb Ungarns perfektioniert.

Die dominierende magyarische Elite wurde durch das Wahlrecht weiter begünstigt. Das wichtigste Ziel war die Ausschaltung der Nicht-Magyaren durch das an die Steuerleistung gekoppelte Zensus-Wahlrecht, das ökonomisch schwächere Schichten von der demokratischen Mitsprache ausschloss. Aber auch die Schaffung von Wahlkreisen, die bewusst so ausgelegt waren, dass die Minderheiten auch regional selten in einer Mehrheitsposition waren, brachten klare Benachteiligungen für die anderen Nationalitäten.

Den Höhepunkt fand die Magyarisierungspolitik unter der Regierung von Ministerpräsident Dezső Bánffy in den Jahren 1895 bis 1899, als die Magyarisierung von Orts- und Familiennamen und repressive Maßnahmen in der Schulgesetzgebung Teil des offiziellen Regierungsprogramms wurden.

Der magyarisierende Nationalismus avancierte in Ungarn mehr als anderswo zu einem Mittel zur Überbrückung unterschiedlicher politischer Anschauungen. In bedrohlichen Szenarien wurde das Bild einer von der Masse slawischer Völker umspülten kleinen magyarischen Insel geprägt. In nationalbewussten Kreisen herrschte die diffuse Angst vor dem Untergang des Magyarentums, der nur durch einen von der geeinten „Volksgemeinschaft“ getragenen „Abwehrkampf“ abgewendet werden könnte. In den 1896 stattfindenden „Milleniumsfeiern“, bei denen das offizielle Ungarn die legendenumwobene magyarische Landnahme im Frühmittelalter feierte, wurden die mythischen Wurzeln mit großem nationalen Pathos beschworen.

Bibliografie 

Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988

Gogolák, Ludwig: Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1207–1303

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984

Lukacs, John: Ungarn in Europa. Budapest um die Jahrhundertwende, Berlin 1990

Markus, Adam: Die Geschichte des ungarischen Nationalismus, Frankfurt/Main u. a. 2013

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Entwicklung

    Die Doppelmonarchie: Cisleithanien & Transleithanien

    Die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie war durch den Ausgleich von 1867 entstanden. Die Habsburgermonarchie hatte nun zwei Hauptstädte: Wien und Budapest. Die beiden Reichshälften waren durch eine gemeinsame Armee und eine gemeinsame Außenpolitik verbunden. Stärkstes Bindeglied war der Monarch, der die Einheit des Reiches verkörperte.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.