Von der „Natio Hungarica“ zur magyarischen Nation

In der Epoche des „Erwachens der Völker“ begannen auch in Ungarn die nationalen Erwecker die Fundamente für die moderne magyarische Nation zu legen. Im Falle Ungarns geschah dies auf der Basis des starken Landesbewusstseins und der historischen Zugehörigkeit zur Stephanskrone.

Seit dem Mittelalter sprach man von der Natio Hungarica, die sich auf die feudale Ständegesellschaft bezog. Diese wurde durch die Zugehörigkeit zur ungarischen St. Stephanskrone definiert, und nicht unbedingt durch die Angehörigkeit zur ungarischen Sprachgruppe. Die nationale Politik des 19. Jahrhunderts setzte jedoch – die multiethnische Struktur des Landes ignorierend – die politische Natio Hungarica mit der magyarischen Sprachnation im modernen Sinn gleich.

Der Prozess der Nationswerdung verlief vergleichbar mit dem anderer Völker Zentraleuropas. In der nationalen Interpretation der Geschichte wurde mit großem Pathos die „historische Sendung“ der Magyaren im Abwehrkampf gegen die Osmanen hervorgehoben. Man betonte die lange Kontinuität des ungarischen Königreiches als regionale Großmacht im Mittelalter, während umgekehrt die Epoche der Türkenkriege als Zeitalter des Niedergangs und die Eingliederung in die Habsburgermonarchie als Verlust der Selbstständigkeit betrauert wurden.

Die „Wiedergeburt“ der ungarischen Sprache und Literatur begann mit linguistischen Forschungen und Sprachreformen durch Gelehrte wie Miklós Révai (1750–1807). Das Ungarische hatte wie fast alle zentraleuropäischen Volkssprachen nur eine schwache Tradition als Hoch- und Literatursprache. In der Verwaltung dominierte Latein, an dem die ungarischen Stände bis ins 19. Jahrhundert als offizielle Amts- und Gerichtssprache festhielten. Daneben gewann Deutsch eine immer stärkere Bedeutung als Verkehrs- und Bildungssprache.

Parallel dazu arbeitete man am Aufbau einer modernen Nationalgesellschaft, wobei die verschiedenen sozialen Segmente und ethnischen Gruppen im Königreich Ungarn die ungarisch-magyarische Identität unterschiedlich stark anzunehmen bereit waren.

Zum einen gab es regionale Unterschiede: Der Westen des Königreiches galt traditionell als katholisch, pro-habsburgisch und orientierte sich kulturell und politisch an und nach Wien. Der Hauptmotor der ungarischen Nationswerdung lag daher in den zentralen und östlichen Landschaften, die protestantisch-kalvinistisch geprägt waren und sich gegen den Wiener Zentralismus, gegen die katholische Gegenreformation und gegen die deutsche kulturelle Hegemonie stemmten.

Einen weiteren Faktor bildete das enorme soziale Gefälle: Die ländliche Bevölkerung stand in der feudalen Agrargesellschaft Ungarns noch bis weit ins 19. Jahrhundert unter der politischen und ökonomischen Vorherrschaft des Adels. Bei den sozialen Unterschichten war die ethnische Zugehörigkeit nicht von Bedeutung, denn sie waren als politischer Faktor vernachlässigbar. Zum Großteil national indifferent, lag das Hauptinteresse der Masse der Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter an einer Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation.

Das städtische Bürgertum war vergleichsweise schwach ausgebildet und in größeren Städten oftmals sprachlich deutsch geprägt. Im Süden des Landes gab es auch einen bedeutenden serbischen Anteil am Stadtbürgertum.  

Der Hauptträger der magyarischen Nationswerdung war daher der Adel, der sich als Bewahrer des ungarischen Staatsgedankens sah. Die ungarische Adelsnation wehrte wiederholt Versuche ab, Ungarn in die Zentralisierungsbemühungen der Habsburger einzubeziehen. Die streitbaren adeligen Stände konnten die Sonderstellung Ungarns, die es auch schon vor dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 innehatte, bewahren. Selbst unter Maria Theresia war Ungarn von den Reformen, die eine Vereinheitlichung der Monarchie zum Ziel hatten, ausgenommen gewesen. Die Wehrhaftigkeit der Stände zeigte sich auch, als Joseph II. versuchte, Deutsch statt Latein als Verwaltungssprache einzuführen und die Verfassung zu reformieren, was das Land an den Rand eines Aufstandes brachte. 

Bibliografie 

Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988

Markus, Adam: Die Geschichte des ungarischen Nationalismus, Frankfurt/Main u. a. 2013

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.