István Graf Tisza: Ungarns „starker Mann“

István Graf Tisza war mit seiner national-feudalen Einstellung ein typischer Vertreter des ungarischen Kleinadels, der die politische Landschaft Ungarns um 1900 prägte. Seine Politik als ungarischer Ministerpräsident kennzeichneten ein autoritärer Stil, eine distanzierte Loyalität zu Wien und eine kompromisslose Haltung gegenüber den Forderungen der nationalen Minderheiten.

István Tisza (1861–1918) übernahm das politische Programm seines Vaters Kálmán Tisza (1830–1902), der von 1875 bis 1890 ungarischer Ministerpräsident war. Als Führer der stimmenstärksten national-liberalen Partei wurde er 1903 mit der Funktion des Ministerpräsidenten betraut. 1905 trat er allerdings bereits wieder zurück, als nach starken Wahlverlusten seiner Partei die radikalen nationalen Extremisten die Mehrheit im ungarischen Reichstag erlangten. Nach der Beruhigung der politischen Krise 1905/06 sorgten die Wahlen von 1910 für seine triumphale Rückkehr als Regierungschef. Tisza entwickelte sich nun zum „starken Mann“ Ungarns und führte seine bisherige Politik konsequent fort. Er war ein kompromissloser Vertreter magyarischer Interessen im Gesamtstaat, was ihm die erbitterte Gegnerschaft von Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand einbrachte, der die Sonderstellung der Magyaren, die im Ausgleich von 1867 festgeschrieben war, zugunsten einer Stärkung der Zentralmacht aufzuweichen versuchte. Ebenso lehnte Tisza eine Ausweitung des Föderalismus ab, der den kleineren Nationalitäten zu mehr Autonomierechten verholfen hätte.

Das diktatorische Regime Tiszas prägte die politische Atmosphäre auch in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs. Die Befürworter eines autoritären Wechsels in den extrem konservativen Wiener Kreisen blickten neidvoll nach Budapest. Tisza wurde dank seiner harten Position gegenüber demokratischen Tendenzen auch in den Augen Berlins als verlässlicherer Ansprechpartner als die Wiener Regierung gesehen, die aus Rücksicht auf die divergierenden Interessen der Nationalitäten kompromissorientierter vorgehen musste.

Aufgrund des ohnedies deutlich autoritäreren Regierungsstils in Ungarn war nach Ausbruch des Krieges im Juli 1914 der Unterschied zur Vorkriegssituation nicht so radikal wie in Cisleithanien. Tisza gelang es, den Einfluss der Armeeführung auf zivile Angelegenheiten auf ein Minimum zu beschränken. Anders als in der österreichischen Reichshälfte blieb auch das ungarische Parlament, der Reichstag, weiterhin in Tätigkeit. Der Grund dafür war die größere Loyalität der magyarischen Eliten, die dank des hiesigen politischen Systems den Reichstag dominierten, zum ungarischen Staat, während der österreichische Reichsrat durch die Nationalitätenkonflikte unberechenbar geworden war. Dank einer protektionistischen Wirtschaftspolitik, die selbst gegenüber Cisleithanien eingehalten wurde, fiel die Versorgungskrise aufgrund der agrarischen Stärke Ungarns weniger stark aus als in Österreich.

Tiszas Haltung zum Krieg war von einer rein magyarischen Interessenpolitik geleitet. Er befürwortete zwar ein militärisches Vorgehen gegen serbische und rumänische Expansionsbestrebungen, um den nationalen Irredentismus der jeweiligen Minderheiten in Ungarn einzudämmen. Jedoch lehnte er eine Annexion weiterer Territorien entgegen den Kriegszielen der k. u. k. Armeeführung am Balkan ab. Denn eine Angliederung weiterer Gebiete mit einer südslawischen oder rumänischen Bevölkerung hätte die privilegierte Stellung der Magyaren noch mehr in Frage gestellt.

Seinen Einfluss machte Tisza auch gegenüber dem neuen König Karl geltend. Er überredete den jungen und politisch unerfahrenen Monarchen im Herbst 1916 dazu, sich umgehend zum ungarischen König krönen zu lassen. Karl vergab damit seine Chance auf eine Reform der ungarischen Verfassung, denn durch den Krönungseid band er sich an deren Bestimmungen. Die einseitige Bevorzugung der Magyaren wurde somit fortgeschrieben.

Welche Folgen die Ablehnung der Magyarisierungspolitik durch die nicht-magyarischen Sprachgruppen in Ungarn haben konnte, zeigte sich bei der Invasion rumänischer Truppen in Siebenbürgen nach der Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn 1916: Die rumänischen Einheiten wurden von den unter der magyarischen Bevormundung leidenden siebenbürgischen Rumänen als Befreier gefeiert.

Als Reaktion darauf mehrten sich die Stimmen gegen den diktatorischen Regierungsstil Tiszas. Eine oppositionelle Gruppierung um den liberalen Aristokraten Mihály Graf Károlyi (1875–1955) forderte demokratische Reformen, das allgemeine Wahlrecht und eine Föderalisierung Ungarns. Um die weitere Existenz Ungarns in seinen historischen Grenzen zu garantieren, könnten die nationalen Forderungen der ethnischen Minderheiten nicht länger ignoriert werden. Das autoritäre Regime Tiszas begann zu wanken und im Juni 1917 trat der „starke Mann Ungarns“ zurück.

Selbst nach seinem Rücktritt als Regierungschef – der Grund dafür lag auch in massiven Meinungsverschiedenheiten mit dem jungen Kaiser und ungarischen König Karl – blieb Tisza die dominante politische Persönlichkeit. Während des Umsturzes im Herbst 1918 wurde er von ungarischen Revolutionären am 31. Oktober 1918 als Symbol des alten Systems erschossen.

Bibliografie 

Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984

Lukacs, John: Ungarn in Europa. Budapest um die Jahrhundertwende, Berlin 1990

Markus, Adam: Die Geschichte des ungarischen Nationalismus, Frankfurt/Main u. a. 2013

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Person

    István Graf Tisza

    Tisza war der "starke Mann" in der politischen Szene der ungarischen Reichshälfte. Er wurde in den Tagen des Umsturzes 1918 ermordet.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.