Die beiden Teilstaaten der Doppelmonarchie entwickelten sich nach 1867 in unterschiedliche Richtungen. Immer stärker machten sich in Wien und Budapest Auffassungsunterschiede über die Rechte und Pflichten der Reichshälften gegenüber dem Gesamtstaat bemerkbar.
Aus der Sicht Wiens stellte der Österreichisch-Ungarische Ausgleich eine Verbindung zwischen zwei autonomen Teilen eines Gesamtstaates dar, während die Monarchie in ungarischer Lesart nur den äußeren Rahmen für zwei an sich souveräne Staaten bildete.
Die beim Ausgleich getroffene Vereinbarung, dass alle zehn Jahre das Wirtschafts- und Zollbündnis sowie die Quoten für die Ausgaben für die gemeinsamen Aufgaben neu verhandelt werden sollten, wurde von der ungarischen Seite für eine Erweiterung der Konzessionen genützt. Besonders deutlich zeigte sich dies 1897, als die Verhandlungen über die Quote erfolglos blieben und sich der tiefe Riss in der Beziehung zwischen den Reichshälften offenbarte. Radikalere Kräfte hatten in Wien wie in Budapest die Führung übernommen. In Ermangelung einer Einigung wurde schließlich der Status quo auf Basis der Quote von 1887 verlängert.
In Ungarn wurde die liberal-feudale Regierung unter Ministerpräsident István Tisza von der nationalistischen Opposition – in erster Linie der radikalen Unabhängigkeitspartei unter Ferenc Kossuth, dem Sohn des Revolutionsführers – bedrängt. Die Opposition zog im Tumult, bei dem der Sitzungssaal demoliert wurde, aus dem Budapester Parlament aus, was zu einer Regierungskrise und dem Rücktritt Tiszas führte.
Die darauf folgenden Neuwahlen führten 1905 zu einem Erdrutschsieg der Radikalen. Dennoch ernannte Franz Joseph eine gegenüber dem Gesamtstaat loyale Minderheitsregierung. Im aufgeheizten Klima wurde daraufhin zum nationalen Widerstand mittels Boykott der Steuerleistung und der Rekrutenaushebung aufgerufen. Es kam zu Aktionen gegen die Staatsmacht und die Symbole der Gesamtstaates. Ein Führungsausschuss bildete sich als eine Art Gegenregierung der Radikalen, sodass Ungarn knapp vor einem Bürgerkrieg stand und im Wiener Kriegsministerium bereits Pläne für eine militärische Besetzung Ungarns („Fall U“) ausgearbeitet wurden. Schließlich einigte man sich 1906 auf eine Regierung unter dem Kompromisskandidaten Sándor Wekerle, an der auch Radikale beteiligt waren.
Unter diesen denkbar schlechten Voraussetzungen schritt man 1907 erneut zu Verhandlungen über die Ausgleichsquote. Angesichts der Befürchtungen einer neuerlichen Eskalation mehrten sich in Cisleithanien die Stimmen, Ungarn völlige Unabhängigkeit zu gewähren, da die ungarische Frage immer mehr eine Fessel für den Gesamtstaat darstellte. Streitthemen waren wiederum die Finanzen und eine Vertiefung der Autonomierechte Ungarns, v. a. auf dem Gebiet der Armee: Im Rahmen der Heeresneuorganisation, die gerade im Gange war, forderten die Ungarn für ungarische Einheiten die Einführung der ungarischen Kommandosprache neben dem Deutschen, was von Franz Joseph entschieden abgelehnt wurde.
Der Kaiser drohte den ungarischen Nationalisten mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts wie in der österreichischen Reichshälfte. Dies hätte zur Folge gehabt, dass große, bisher vom Wahlrecht ausgeschlossene Bevölkerungsteile eine Stimme erhalten hätten. In Ungarn hätte dies bedeutet, dass die nicht-magyarischen Sprachgruppen nun gleichberechtigt gewesen wären und durch ihre zahlenmäßige Stärke die magyarische Vormachtstellung überwunden hätten. Es herrschte in dieser Frage eine eigenartige Konstellation: Der konservative Franz Joseph – sonst sehr skeptisch gegenüber demokratischen Reformen – gerierte sich nun in Ungarn als Verfechter der Demokratisierung, um die magyarischen Extremisten in Schach zu halten. Die Drohung zeigte Wirkung, und 1907 wurde der Ausgleich fortgeschrieben.
Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988
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Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984
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Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005
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Kapitel
- Die Magyaren in der Habsburgermonarchie
- Von der „Natio Hungarica“ zur magyarischen Nation
- Der Stolz der Nation: Der ungarische Adel
- Der ungarische Freiheitskrieg 1848/49
- Vom Neoabsolutismus zum Ausgleich
- Élyen a Magyar – Lang lebe der Magyare! Die ungarische Magyarisierungspolitik
- Die Krise des Dualismus
- István Graf Tisza: Ungarns „starker Mann“