Der Stolz der Nation: Der ungarische Adel

Der Adel war in Ungarn – wie im Großteil des Habsburgerreiches – die herrschende Klasse und konnte seine politischen und ökonomischen Privilegien bis zum Ersten Weltkrieg bewahren. In Ungarn spielte er jedoch für die nationale Entwicklung eine bedeutendere Rolle als bei den meisten anderen Nationalitäten Zentraleuropas.

Der ungarische Adel war keine einheitliche Gruppe: Hochadelige Familien wie die Esterházy, Batthyány oder Pálffy herrschten über riesige Güterkomplexe und bildeten nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die ökonomisch bestimmende Elite in diesem agrarisch geprägten Land. Diese Magnaten verfügten zwar über ein starkes ungarisches Kronbewusstsein, waren aber ethnisch nicht eindeutig zuordenbar und aufgrund der vielfachen Verschwägerung mit anderen aristokratischen Familien der Monarchie sprachlich und kulturell supranational eingestellt. Loyal zur habsburgischen Dynastie, trugen diese Spitzen des ungarischen Adels in ihrer prachtvollen Magnatentracht zum Glanz des Wiener Hofes bei.

Viel stärker in die Nationswerdung involviert war der Kleinadel bzw. Komitatsadel, der eine Besonderheit im sozialen Aufbau der ungarischen Nationalgesellschaft darstellte. Diese überaus zahlreiche Schicht – im 19. Jahrhundert machte der Anteil des Kleinadels ca. 5 % der Gesamtbevölkerung des Landes aus – stand zwischen dem Hochadel und dem entstehenden Besitzbürgertum.

Dieser ländliche Kleinadel oder Gentry (dieser englische Begriff wurde in der Schreibweise dzsentri sogar ins Ungarische übernommen) hatte seine ursprüngliche Basis in den Komitaten, wie die administrativen Einheiten des Königreiches genannt wurden. Oft nur mit geringem Landbesitz ausgestattet, dominierte die Gentry jedoch den Staatsdienst und bildete vor allem in der Provinz die tonangebende Klasse. Der Lebensstil und der kulturelle Habitus des Kleinadels wurden zur Richtschnur für die ungarische Nationalgesellschaft.

Die Gentry ersetzte im Prozess der politischen Nationswerdung anfänglich das fehlende Bürgertum und wurde zum eigentlichen Träger der Nationalbewegung. Die adelige Führungsschicht adaptierte die Ideen des Liberalismus für ihre Zwecke. Die Folge war die für Ungarn spezifische Ausformung eines adeligen Nationalliberalismus, wobei nur die nationalen Forderungen übernommen, die demokratisch-emanzipatorischen Elemente jedoch beiseite gelassen wurden.

Das kompromisslose Bekenntnis zum Ungarntum machte die Gentry auch in mehrheitlich anderssprachigen Regionen des Landes zum Vorposten der magyarischen Staatsnation und zur Bastion eines chauvinistischen Nationalismus, der auf die Emanzipationsversuche der ethnischen Minderheiten verächtlich herabblickte.

Das nationale Bewusstsein der Gentry war vor allem auch ein Klassenbewusstsein: Es galt die alten Privilegien und Rechte zu verteidigen, und daher wurden die neuen Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft mit großer Skepsis beobachtet. Die adelsstolze Gentry geriet um 1900 in Konkurrenz mit der entstehenden urbanen Mittelschicht, vor allem mit dem aufsteigenden jüdischen Bürgertum. Die Folge war ein gesellschaftliches Klima, das von einem kämpferischen Konservatismus mit antisemitischen und chauvinistischen Untertönen geprägt war.

Bibliografie 

Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988

Lukacs, John: Ungarn in Europa. Budapest um die Jahrhundertwende, Berlin 1990

Markus, Adam: Die Geschichte des ungarischen Nationalismus, Frankfurt/Main u. a. 2013

Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.