Die Habsburgermonarchie als Garant pluralistischer Identitäten

Für die österreichischen Juden und Jüdinnen bedeutete die Habsburgermonarchie als supranationale Einheit die Möglichkeit, eine Identität zu entfalten, die sich nicht allein auf eine nationale, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit stützte. Sie verstanden sich als Rückgrat einer dem Kaiserhaus loyalen, integrativen Kraft des Vielvölkerreiches und standen bis Kriegsende für einen Multinationalismus ein.

 


 

„In der Tat sind die Juden nicht etwa die treuesten Anhänger der Monarchie, sie sind die einzigen bedingungslosen Österreicher in diesem Staatsverband.“

Nichts gelernt und nichts vergessen, in: Dr. Bloch´s Wochenschrift (22. Juni 1917) 24, 390

Dr. Bloch´s Österreichische Wochenschrift

Die meisten österreichischen Juden und Jüdinnen fühlten sich verbunden mit dem habsburgischen Vielvölkerstaat, identifizierten sich mit der deutschen Kultur und bekannten sich zum mosaischen Glauben. Diese von der Historikerin Marsha L. Rozenblit als „dreifache Identität“ bezeichnete Zugehörigkeit hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt und wirkte einigend auf die jüdische Bevölkerung des Vielvölkerstaates. Sie fühlte sich mit der Monarchie patriotisch verbunden und zeigte Loyalität gegenüber dem habsburgischen Kaiserhaus.

In einer Zeit, in der zunehmend nationale Töne angeschlagen wurden und separatistische Bestrebungen zentrifugal wirkten, hielten die meisten Juden und Jüdinnen am offiziellen Staatsgedanken fest. Der anwachsende Antisemitismus und die ethnische Definition nationaler Identität verstärkten ihre Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie. Eine starke Zentralmacht, so die Erwartung, würde am ehesten einzelnen Gruppierungen Autonomierechte gewähren und dennoch gleiche Rechte für alle BürgerInnen konstitutionell festschreiben. Darüber hinaus sahen sie im Fortbestand der multinationalen Habsburgermonarchie den besten Schutz gegen den grassierenden Antisemitismus.

Mit Kriegsbeginn positionierte sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung loyal zum Kaiser und führende Persönlichkeiten brachten ihren Patriotismus lautstark zum Ausdruck. Viele junge Männer zogen begeistert in den Krieg und insbesondere jenen Soldaten, die unter der antisemitischen Hetze groß geworden waren, erschien dieser Krieg als Chance, ihre Ergebenheit gegenüber Staat und Kaiserhaus tatkräftig unter Beweis zu stellen und den Verleumdungen entgegenzutreten. So schrieb etwa Egon Zweig im Juli 1914 in der Jüdischen Zeitung:
„Die Nichtswürdigen, die jahraus, jahrein uns Juden als herzlose Geldmaschinen, als ehrlose Feiglinge, als den Ausbund aller Laster schmähten, die unser gesetzlich gewährleistetes Recht auf Gleichberechtigung hohnlächelnd mit Füßen getreten haben, die mögen sehen, wie jüdische Männer kampfbereit dem Kaiser geben, was des Kaisers ist!

Neben dem Bedürfnis, die Treue zur Monarchie unter Beweis zu stellen und Vorwürfen der Feigheit und Drückebergerei entgegenzutreten, gab es noch einen weiteren Grund für das hohe Maß jüdischer Selbstmobilisierung. Der Krieg gegen Russland erschien manchen als Feldzug gegen den jüdischen Erzfeind. Die Wahrnehmung des Zarenreiches als barbarisch, despotisch und antisemitisch verfestigte sich in den ersten Kriegsjahren, nachdem die russische Armee in Galizien einmarschiert und Tausende Flüchtlinge aus Angst vor Pogromen in den Westen der Monarchie geflohen waren. Aufzeichnungen jüdischer Soldaten aus allen Gebieten der Monarchie zeugen davon, dass der Kampf gegen Russland vielen eine schlüssige Rechtfertigung für ihren Einsatz an der Front lieferte.

 

Bibliografie 

Beller, Steven: Wien und die Juden 1867–1938, Wien/Köln/Weimar 1993

Botz, Gerhard et al. (Hrsg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 2. Auflage, Wien 2002

Rozenblit, Marsha L.: Sustaining Austrian „National“ Identity in Crisis: The Dilemma of the Jews in Habsburg Austria, 1914−1919, in: Judson, Pieter M./Rozenblit, Marsha L.: Constructing Nationalities in East Central Europe, New York 2005, 178-191

Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001

Rechter, David: Kaisertreue. The Dynastic Loyality of Austrian Jewry, in: Hödl, Klaus (Hrsg.): Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des österreichischen Judentums, Innsbruck/Wien/München 2000, 189-208

Zitate:

„Die Nichtswürdigen, die jahraus, jahrein...“: Zweig, Egon: „Oesterreich und wir Juden“, Jüdische Zeitung. National-jüdisches Organ, Wien 31. Juli 1914, 31, 1

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.

  • Entwicklung

    Antisemitismus

    Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus zur politischen Bewegung, die den Judenhass zum ideologischen Programm und zur Richtschnur für politische Aktionen erhob. Dahinter verbarg sich eine Ideologie, die Juden und Jüdinnen als „die Anderen“ stigmatisierte und als eine die Gesellschaft bedrohende Gefahr inszenierte. Während des Ersten Weltkrieges führte der „innere Burgfrieden“ zunächst zu einem Abflauen der antisemitischen Hetze, doch der ungünstige Kriegsverlauf förderte die antisemitische Ausschlusspolitik.