Kriegsgefangenschaft. Das Recht, mit „Menschlichkeit behandelt zu werden“
Im Verlauf des Ersten Weltkrieges gerieten je nach Schätzung zwischen 7 und 8,5 Millionen Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Die Gefangenen standen laut Haager Landkriegsordnung unter besonderem Schutz. Generell besaßen sie das Recht, mit „Menschlichkeit“ behandelt zu werden. Doch trotz einer Reihe kodifizierter Ver- und Gebote fanden Hunderttausende von ihnen den Tod. Die Chance, die Gefangenschaft zu überleben, variierte dabei in den verschiedenen Ländern beträchtlich.
Der deutsche Völkerrechtler Heinrich Triepel formulierte 1894 den Grundsatz, dass Kriegsgefangene nicht als Straf- sondern als Sicherheitsgefangene zu gelten haben. Die sich aus diesem Status herleitenden Rechte und Pflichten wurden erstmals in den Haager Konferenzen (1899/1907) durch Kodifikation des bisher geltenden Gewohnheitsrechts schriftlich festgelegt. Prinzipiell galt, dass Kriegsgefangene weder getötet noch misshandelt werden durften. Sie „[...] sollten mit Menschlichkeit behandelt werden“ und waren vor jeglichen Racheakten zu schützen. Um dies gewährleisten zu können, unterstanden sie der feindlichen Regierung und nicht der militärischen Einheit, die sie gefangen genommen hatte (Art. 4). Sie waren hinsichtlich „[...] Nahrung, Unterhalt und Kleidung auf dem selben Fuße zu behandeln wie die Truppen der Regierung, die sie gefangen genommen hat“ (Art. 7). Sie konnten vom Staat – mit Ausnahme der Offiziere – zwar als Arbeiter verwendet werden, doch durften diese Arbeiten „[...] nicht übermäßig sein und in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen stehen“ (Art. 6).
Die Behandlung von Gefangenen gestaltete sich in den Krieg führenden Ländern und Frontbereichen sehr unterschiedlich. Für die Kriegsgefangenen im Deutschen Reich galt, dass sie mit einigermaßen ‚menschenwürdigen‘ Umständen rechnen konnten. Zwar gab es auch hier weit verbreitete Fälle leichter Misshandlungen, jedoch blieben drastische Gewaltanwendungen die Ausnahme. Trotzdem starben auch hier tausende Soldaten. So kamen in deutschen Gefangenenlagern etwa 70.000 russische, 18.000 französische und 5.500 britische Kriegsgefangene ums Leben. Die Todesursachen waren dem irischen Historiker Alan Kramer zufolge „[...] zumeist das Resultat organisatorischer Mängel, Nahrungsmittelknappheit und Inkompetenz, nicht jedoch von Brutalität“.
Die Wahrscheinlichkeit, in einem russischen oder habsburgischen Gefangenenlager zu überleben, war dahingegen ungleich niedriger. Während im Deutschen Reich zirka 5 Prozent der Kriegsgefangenen ums Leben kamen, starben in den Lagern der Donaumonarchie etwa 20 Prozent, in Russland sogar über 26 Prozent.
Ausschlaggebend für die Sterblichkeitsrate in der Habsburgermonarchie war einerseits die Nahrungsmittelknappheit – doch mit dieser hatte auch das Deutsche Reich zu kämpfen –, anderseits die Vernachlässigung durch die k. u. k. Administration, Gewaltanwendung sowie schwere und gefährliche Zwangsarbeit. Ein Zeitgenosse schilderte die Situation von russischen Kriegsgefangenen folgendermaßen: „Halbverhungerte Existenzen ohne Schutz ihrer Interessen, Schwerstarbeit, unmenschliche physische und seelische Qualen – das verschleißt die Kräfte der Gefangenen und führt zu ihrem Tod. Um die Gefangenen zur Arbeit zu zwingen, werden Ruten, Fesseln, Antreiben mit Hunden, Aufhängen, Kreuzigen, kaltes Wasser, Herabsetzung der schon so ungenügenden Essensration, Kolben und Bajonette – bis hin zum Erschießen gebraucht.“
Noch fataler erwies sich die Situation der in Russland inhaftierten Soldaten. Auch hier waren es die Nahrungsmittelknappheit, die sich insbesondere mit der Revolution 1917 verschärfte, Misshandlungen durch das Wachpersonal, medizinische Vernachlässigung und übermäßige Zwangsarbeit unter oftmals extremen klimatischen Bedingungen, die Tausende Gefangene das Leben kostete. Eine unrühmliche Bekanntheit erlangte beispielsweise der Bau der militärstrategisch bedeutenden Murmanbahn, über die der ungarische Historiker Antal Józsa schreibt: „Bis Ende 1916, als der Eisenbahnverkehr anfing [...] starben von den 80.000 Kriegsgefangenen, die zu den verschiedenen Zeitabschnitten an dieser Baustelle eingesetzt wurden, wegen der gesundheitsschädlichen Bedingungen und Mißhandlungen durch die Aufseher der Eisenbahnbaugesellschaft etwa 25.000 - 28.000 an den Arbeitsplätzen und in den Krankenhäusern.“
Hankel, Gerd: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003
Józsa, Antal: Háború, Hadifogság, Forradalom. Magyar Internacionalista Hadifoglyok az 1917-es Oroszországi Forradalmakban, Budapest 1970
Kramer, Alan: Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumreich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn/München/Wien/et al. 2009, 281-292
Sergeev, Evgenij: Kriegsgefangenschaft aus russischer Sicht. Russische Kriegsgefangene in Deutschland und im Habsburger Reich (1914-1918), in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 1 (1997), 113-134
Wurzer, Georg: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Rußland im Ersten Weltkrieg, Diss. Universität Tübingen 2000
Zitate:
"[...] sollten mit Menschlichkeit behandelt werden...": Haager Landkriegsordnung, Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, 18. Oktober 1907, RGBl. 1910, 134
"[...] Nahrung, Unterhalt und Kleidung...": ebd., 135
"[...] nicht übermäßig sein...": ebd., 134
"[...] zumeist das Resultat organisatorischer...": Kramer, Alan: Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumreich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn/München/Wien/et al. 2009, 287
"Halbverhungerte Existenzen...": Sergeev, Evgenij, zitiert in: Wurzer, Georg: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Rußland im Ersten Weltkrieg, Diss. Universität Tübingen 2000, 488
"Bis Ende 1916...": Józsa, Antal, zitiert in: ebd., 341
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Kapitel
- Das Kriegsvölkerrecht. Genese einer Verrechtlichung
- Der Erste Weltkrieg und das geltende Kriegsrecht
- Die Westfront. Franktireur-Psychosen und der Krieg gegen die Zivilbevölkerung
- Russlands „innere Feinde“. Jüdische und deutsche Minderheiten an der Ostfront
- Die Kriegsverbrechen der k. u. k. Armee. Zwischen Soldateska und Standgericht
- Kriegsgefangenschaft. Das Recht, mit „Menschlichkeit behandelt zu werden“
- Verbotene Kriegsmittel: Dumdum-Geschosse und Giftgaseinsatz
- Die Leipziger Prozesse (1921-1927). Zwischen nationaler Schande und juristischer Farce