Der Erste Weltkrieg und das geltende Kriegsrecht

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte man ein schriftlich fixiertes und allgemein anerkanntes Kriegsrecht zu schaffen. Erste Erfolge zeigten sich in den Jahren um die Jahrhundertwende. Das allgemein anerkannte Kriegsrecht zur Zeit des Ersten Weltkriegs bildeten die Genfer Konvention (1906) und die Haager Landkriegsordnung (1907).

Bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs existierte ein Gesetzeskorpus, der das international anerkannte humanitäre Völkerrecht umfasste. Er bestand aus den Genfer Konventionen von 1864 und 1906 – die insbesondere der Verbesserung der Situation verwundeter Kriegsteilnehmer dienten –, sowie den Haager Abkommen von 1899 und 1907. Diese völkerrechtlichen Verträge basierten auf einer Reihe vorangegangener Kodifizierungsbestrebungen. Ihre Bedeutung lag jedoch vor allem in ihrer universellen Gültigkeit, da sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht sachlich, territorial oder in ihrer Rechtskraft eingeschränkt waren.

Die Genfer Konventionen wurden von allen späteren Kriegsbeteiligten ratifiziert und bildeten somit allgemein anerkanntes Recht. Auch die im Haager Abkommen von 1907 enthaltene Haager Landkriegsordnung (HLKO) war von den wichtigsten Krieg führenden Nationen des Ersten Weltkrieges unterzeichnet worden. Mit der HLKO erhielten alle zuvor lediglich gewohnheitsrechtlich tradierten Regeln des Krieges erstmals eine breite völkerrechtliche Basis. Aus ‚Kriegstraditionen’ wurde ein umfassendes und allgemein gültiges Kriegsrecht, in dem die „allgemeinen Gesetze und Gebräuche“ des Landkrieges in kodifizierter Form festlegt waren. Im Eingangstext der HLKO war zu lesen, dass die dort festgeschriebenen Bestimmungen „[…] durch den Wunsch angeregt wurden, die Leiden des Krieges zu mildern, soweit es die militärischen Interessen gestatten, den Kriegführenden als allgemeine Richtschnur für ihr Verhalten in den Beziehungen untereinander und mit der Bevölkerung [zu] dienen“.

Die HLKO von 1907 umfasste drei gesetzliche Normkomplexe: Der erste definierte den regulären Kombattanten (Soldaten), den irregulären Kombattanten (Freischärler) und die nichtkombattante Zivilbevölkerung. Daraus ergab sich auch ein besonderer Rechts- und Schutzstatus der durch den Feind gefangen genommenen regulären Soldaten. Hinsichtlich des Umgangs mit Verletzten und Verwundeten verwies man auf die Genfer Konventionen, wonach Gefangene zu schützen und zu versorgen seien. Der zweite Normkomplex begrenzte die Wahl der Kampfstoffe „zur Schädigung des Feindes“. Des Weiteren behandelte er Fragen nach der legitimen Belagerung und Beschießung feindlichen Gebiets. Verboten waren hier Kampfmittel, die unnötiges Leid bewirkten, die Verwendung von Giften, das Töten wehrloser Feinde, die nicht kriegsnotwendige Zerstörung feindlichen Eigentums sowie die Beschießung unverteidigter Orte. Der dritte Normkomplex befasste sich mit dem Verhalten von Besatzungsmächten in besetzten Territorien. Hier galt es, insbesondere die Zivilbevölkerung vor etwaiger Willkür und Gewalt zu schützen. Verboten waren unter anderem Plünderungen, Deportationen, Kollektivstrafen und die willkürliche Hinrichtung von Zivilisten.

Trotz aller Fortschritte wies das Haager Abkommen hinsichtlich der Kodifizierung des Kriegsrechts auch eine Reihe von Defiziten auf. Es sollte die kriegsbedingten Leiden möglichst abmildern, doch dies nur, „soweit es die militärischen Interessen gestatten“ und es den nationalen Vorstellungen der Signatarmächte entgegenkam. Problematisch erwiesen sich insbesondere zwei Bereiche: Einerseits ermöglichten einige der in der HLKO aufgelisteten Ge- und Verbote einen relativ breiten Interpretationsspielraum, andererseits fehlten konkrete Verfügungen, die im Falle von Verstößen eine strafrechtliche Ahndung ermöglichten.

Bibliografie 

Kramer, Alan: Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumreich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn/München/Wien/et al. 2009, 281-292

Überegger, Oswald: „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 241-278

 

Zitate:

"[…] durch den Wunsch angeregt...": Haager Landkriegsordnung, Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, 18. Oktober 1907, RGBl. 1910, 109

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Kriegsgefangenschaft

    Im Mai 1916 schickt Anton Baumgartner eine Kriegsgefangenenpostkarte an seinen Sohn Otto im Gefangenenlager Nowo Nikolajewsk in Sibirien (heute Nowosibirsk). Otto Baumgartner ist nur einer von hunderttausenden Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg in feindlichem Gewahrsam befanden. Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen geriet jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose und Italiener, jeder fünfte Angehörige des zarischen Heeres und schließlich fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte im Laufe der Kampfhandlungen des Krieges in Gefangenschaft.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.