Das Kriegsvölkerrecht. Genese einer Verrechtlichung
Wann ist es rechtens, einen Krieg zu führen und was ist gerecht in einem Krieg? Diese Fragen muten in Anbetracht des enormen Leides, das Kriege mit sich bringen, pharisäerhaft an. Und doch: Kriege fanden nie im völlig rechtsfreien Raum statt. Das Gegenteil ist der Fall.
Unter welchen Umständen ist es gerechtfertigt, einen Krieg zu führen? Dieser Frage stellte man sich bereits in der römischen Antike. So verweist Cicero (106-43 v. Chr.) darauf, dass das Recht zur Kriegsführung bestimmten Bedingungen unterworfen sei. Ein Krieg sei nur dann gerechtfertigt, wenn dies aus Gründen der Verteidigung oder der Rache geschieht. Zudem verlangte das antike Rechtsverständnis, dass ein Krieg nicht überraschend beginnen durfte, sondern zuvor in einer feierlichen Verkündigung erklärt werden musste.
Auch im europäischen Mittelalter bedurfte Krieg eines bestimmten Grundes, wobei er nach christlichem Verständnis nur dann als gerechtfertigt galt, wenn er eine Reaktion auf zuvor erlittenes Unrecht darstellte. Nach Thomas von Aquin (1225-1274) mussten eine gerechte Absicht sowie die Autorität des Fürsten hinzukommen.
Auf diesen Traditionslinien aufbauend entwickelte der Niederländer Hugo Grotius (1583-1645) seine im Jahr 1625 veröffentlichte Schrift „De jure belli ac pacis libri tres“ (Über das Recht des Krieges und des Friedens). Für Grotius, der heute als Begründer des klassischen Völkerrechts angesehen wird, war ein Krieg nur dann legitim, wenn er der Verteidigung, der Wiedererlangung von Eigentum oder der Bestrafung diente. Als nicht legitim galt das bloße Streben nach Gebietszuwachs oder die Unterdrückung des gegnerischen Volkes.
Zeitgleich mit Grotius’ Überlegungen zum Kriegsrecht dynamisierte sich der Prozess der Staatenbildung. Der Völkerrechtler Udo Fink meint dazu: „Mit Aufkommen des Primats staatlicher Souveränität setzte sich dann Anfangs des 17. Jahrhunderts […] die Auffassung durch, dass es das Recht eines jeden souveränen Staates ist, aus beliebigem Grunde Krieg zu führen.“ Zwar versuchte man seit dem Westfälischen Frieden (1648) durch völkerrechtliche Verträge die völlige Willkür der Kriegsführung einzugrenzen, doch erst der Briand-Kellogg-Pakt (1928) betrachtete als Folge des Ersten Weltkrieges den Angriffskrieg als illegitim.
Einen weiteren Bestandteil des Kriegsvölkerrechts bildet das humanitäre Völkerrecht. Im Gegensatz zum ius ad bellum, also dem Recht zum Krieg, regelt das ius in bellum die Kriegsführung selbst. Geregelt wurde hier mitunter die Behandlung von Kriegsgefangenen, Verwundeten und Zivilisten sowie die Verwendung bestimmter Kriegsmittel und Kriegstaktiken.
Zwar reichen auch hier die Auseinandersetzungen bis in die römische Antike zurück, doch erlangte dieser Aspekt erst im 19. Jahrhundert größere Bedeutung. Ausschlaggebend waren vornehmlich zwei Veränderungen: die Ausbreitung humanistischer Ideale und die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht. Wo einst eine begrenzte Zahl von Söldnern oder Soldaten gegeneinander ins Feld gezogen waren, betrafen die neuen Volks- bzw. Massenkriege immer breitere Gesellschaftsschichten.
Darüber hinaus wurden die Auswirkungen der ‚modernen‘ Kriege durch die Massenpresse einer immer breiteren und zusehends kritisch eingestellten Öffentlichkeit vor Augen geführt. Hier war es insbesondere der Krimkrieg (1853-1856), der erstmals eine breite mediale Aufmerksamkeit erfuhr. Durch die britische Krankenpflegerin Florence Nightingale wurde das Leiden der Soldaten einer großen Öffentlichkeit bekannt.
Der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant erlebte die Situation der verwundeten Soldaten bei der Schlacht von Solferino (1859) und trug wesentlich zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) und der Genfer Rot-Kreuz-Konvention (1864) bei.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zudem Versuche unternommen, kriegsrechtliche Normen zu kodifizieren. Hier war es der Lieber Code von 1863, der im Zuge des amerikanischen Sezessionskrieges (1861-1865) das zur damaligen Zeit geltende Kriegsrecht reflektierte. Ein humanitäres Kriegsrecht internationalen Zuschnitts entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Hierzu zählten das Haager Recht, welches aus den Friedenskonferenzen in Den Haag von 1899 und 1907 hervorging, sowie das Genfer Recht von 1906, dessen Vorläufer die erste Rot-Kreuz-Konvention von 1864 darstellte. Während das Haager Recht insbesondere die Regeln innerhalb der Kriegsführung umfasste, fokussierte das Genfer Recht auf humanitäre Aspekte zum Schutz der Kombattanten und der Zivilbevölkerung.
Fink, Udo: Der Krieg und seine Regeln, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 39-56
Segesser, Daniel Marc: „Moralische Sanktionen reichen nicht aus!“ Die Bemühungen um eine strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen auf nationaler und internationaler Ebene, in: ebd., 57-74
Zitate:
„Mit Aufkommen des Primats...": Fink, Udo: Der Krieg und seine Regeln, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 40
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Kapitel
- Das Kriegsvölkerrecht. Genese einer Verrechtlichung
- Der Erste Weltkrieg und das geltende Kriegsrecht
- Die Westfront. Franktireur-Psychosen und der Krieg gegen die Zivilbevölkerung
- Russlands „innere Feinde“. Jüdische und deutsche Minderheiten an der Ostfront
- Die Kriegsverbrechen der k. u. k. Armee. Zwischen Soldateska und Standgericht
- Kriegsgefangenschaft. Das Recht, mit „Menschlichkeit behandelt zu werden“
- Verbotene Kriegsmittel: Dumdum-Geschosse und Giftgaseinsatz
- Die Leipziger Prozesse (1921-1927). Zwischen nationaler Schande und juristischer Farce