Die Leipziger Prozesse (1921-1927). Zwischen nationaler Schande und juristischer Farce

Das Ausmaß an Gewalt und Zerstörung im Ersten Weltkrieg war für alle Beteiligten erschreckend. Auch die militärischen Normübertretungen nahmen eine neue, noch nicht dagewesene Dimension an. Da die Alliierten die Hauptkriegsschuld dem Deutschen Reich zuwiesen, sollte an dieser Nation, deren Militarismus den Kriegsgewinnern schon lange suspekt erschien, ein Exempel statuiert werden. 

Die Bestimmungen des Vertrags von Versailles (1919/20) sahen vor, dass Deutschland seine mutmaßlichen Kriegsverbrecher an die Alliierten auszuliefern hatte. Abhängig vom Strafbestand sollten die Beschuldigten vor nationale oder internationale Strafgerichte gestellt werden. Diese Forderung galt als absolutes Novum, gehörte es doch bis 1914 zum selbstverständlichen Bestandteil von Friedensverträgen, dass allen Kriegsbeteiligten eine Amnestie zuteil wurde. Die ungeheuren Dimensionen des Ersten Weltkrieges sollten dieser Praxis ein Ende setzen. Der Rechtshistoriker Gerd Hankel meinte dazu: „Das Bestrafungsverlangen der Alliierten […] war trotz aller Empörungsrhetorik, keine bloße Inszenierung […], sondern Ausdruck der tiefsitzenden Überzeugung, daß man nach diesem Krieg, […] nicht einfach zur Tagesordnung übergehen könne.

Die deutsche Öffentlichkeit reagierte empört auf die Auslieferungsbestimmungen des Versailler Vertrags, der ohnehin als „schmachvoller Diktatfrieden“ empfunden wurde. Die Liste der etwa 900 auszuliefernden Personen – darunter einfache Soldaten, Generäle und ranghohe Politiker – wurde von deutscher Seite als massiver Eingriff in die nationale Souveränität aufgefasst und vehement abgelehnt.

Dem deutschen Protest folgten bald Bedenken der Alliierten, die in einer solchen Zwangsauslieferung die Gefahr einer politischen Destabilisierung Deutschlands sahen. Da Deutschland seinerseits konkrete Maßnahmen zur juristischen Verfolgung der Beschuldigten setzte, verzichteten die Alliierten im Februar 1920 vorerst auf deren Auslieferung.

Um die Spruchpraxis der deutschen Justiz auszuloten, wurde von den Alliierten eine sogenannte „Probeliste“ von 45 mutmaßlichen Kriegsverbrechern erstellt. Die Alliierten gingen davon aus, dass in diesen Fällen genügend Beweismittel vorhanden waren, um die Beschuldigten unbedingt zu verurteilen.

Die in- und ausländische Öffentlichkeit beurteilte die seit Frühjahr 1921 geführten Verfahren durchwegs negativ. Während sie in Deutschland als nationale Schande empfunden wurden, galten sie im Ausland als juristische Farce. Hinzu kam, dass sich die deutsche Justiz erstmals mit Begriffen wie „Handeln auf Befehl“, „Kriegsnotwendigkeit“ und einer ihr neuen Definition von „Kriegsverbrechen“ auseinandersetzen musste. In der deutschen Rechtsauffassung wurden „Kriegsverbrechen“ bisher in erster Linie als ein Delikt definiert, bei dem sich deutsche Soldaten gegen den deutschen Staat richteten. Dass nun deutsche Soldaten vor ein deutsches Gericht gestellt wurden, weil sie im Krieg für Deutschland Verbrechen begangen hatten, war neu. Dass man sich gegenüber Kriegsgegnern nicht immer im Sinne des „gültigen Sittengesetzes“ verhielt, galt bisher als lässliches Verhalten. Zwar unterzeichnete das Deutsche Reich die Haager Landkriegsordnung von 1907, doch machte, wie der Historiker Alan Kramer feststellt, „[…] die Heeresleitung bereits in der Vorkriegszeit aus ihrer Verachtung für die ‚Sentimentalität und weichliche Gefühlsschwärmerei‘, d.h. für die Kodifizierung der Grundsätze der Humanität im Krieg keinen Hehl.

Aufgrund dieser Umstände brachten weder die Reichsanwaltschaft noch das Reichsgericht die Angeklagten in ernsthafte Bedrängnis. Ein Gutteil der Prozesse der „Probeliste“ endete mit Freisprüchen, der Rest mit milden Strafen.

Die Alliierten zeigten sich hierüber empört. Belgien und Frankreich annullierten die Zusammenarbeit mit dem Leipziger Reichsgericht und pochten auf die Auslieferung der Beschuldigten. Da dies realpolitisch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr durchsetzbar war, begannen die beiden Länder mit der Durchführung von Abwesenheitsverfahren. Hierauf reagierte Deutschland damit, dass es die im Ausland begonnenen Verfahren selbst weiterführte. Doch die Zielvorgabe war eine andere: Das deutsche Justizministerium erteilte der Reichsanwaltschaft die Weisung, dass alle in Frankreich und Belgien begonnenen Verfahren in Deutschland mit Einstellungen enden sollten. Auf diese Weise wurden bis 1927 etwa 1.700 Fälle durch das Leipziger Reichsgericht ausgesetzt. Damit war die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechern vorerst einmal gescheitert. Vorerst, denn die Erfahrungen, die die Alliierten hier mit der deutschen Justiz machten, sollten nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Ausgestaltung der Nürnberger Prozesse mitprägen.

Bibliografie 

Hankel, Gerd: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003

Kramer, Alan: Deutsche Kriegsverbrechen 1914/1941. Kontinuität oder Bruch?, in: Müller, Sven/Torp, Cornelius (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, 341-358

 

Zitate:

"Das Bestrafungsverlangen der Alliierten...": Hankel, Gerd: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, 14/15

"[...] die Heeresleitung bereits in der Vorkriegszeit...": Kramer, Alan: Deutsche Kriegsverbrechen 1914/1941. Kontinuität oder Bruch?, in: Müller, Sven/Torp, Cornelius (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, 345

 

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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