Die Westfront. Franktireur-Psychosen und der Krieg gegen die Zivilbevölkerung

Während der deutschen Invasion in Belgien und Frankreich kam es wiederholt zu massiven Übergriffen auf die dortige Zivilbevölkerung. Hierauf setzte eine Massenflucht ein. Über 4 Millionen Zivilisten suchten vor der deutschen Armee Schutz im Hinterland. Die Ängste der Bevölkerung waren dabei nicht unbegründet.

Bereits die deutsche Invasion in die neutralen Staaten Luxemburg und Belgien bedeutete einen Bruch des Völkerrechts. Dass dieser Rechtsbruch dem Deutschen Reich bewusst war, zeigt die Reichstagsrede des Kanzlers Bethmann Hollweg vom 4. August 1914: „Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt kein Gebot! Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts […]. Das Unrecht – ich spreche offen – das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist.“ Gerechtfertigt wurde dieser Völkerrechtsbruch mit dem Hinweis auf die „Kriegsnotwendigkeit“. Die Alliierten lehnten die Berufung auf eine „Kriegsnotwendigkeit“ ab, weil sie dazu geeignet war, jegliches Kriegsrecht aus den Angeln zu heben.

Die deutsche Invasion führte zu einer Massenflucht der belgischen und französischen Zivilisten aus Angst, zwischen die militärischen Fronten zu geraten und vor dem aggressiven Verhalten der deutschen Truppen. Ihre Angst war keinesfalls unbegründet. Bereits in den ersten Kriegsmonaten fielen etwa 6.500 belgische und französische Zivilisten deutschen Truppen zum Opfer. Diese Zahl beziffert lediglich die vorsätzlich getöteten Personen und beinhaltet nicht all diejenigen, die im Zuge regulärer Kampfhandlungen ihr Leben lassen mussten. Auch wurden Hunderte von Zivilisten als Geiseln genommen, um die deutschen Truppen als menschliche Schutzschilde vor Angriffen zu schützen. Darüber hinaus verursachte die Invasion enorme materielle Schäden durch willkürliche Brandschatzungen und Beschießungen.

Doch wie konnte es zu Massenexekutionen wie in Dinant (23.8.1914) oder zur Zerstörung ganzer Städte wie in Löwen (25. bis 28.8.1914) kommen? Zum einen durch die psychische und physische Überforderung der deutschen Soldaten, die das operative Plan-Soll des Schlieffen-Plans nur schwer einhalten konnten. Der vorgesehene schnelle Durchmarsch war – nicht zuletzt aufgrund des unerwarteten und vehementen Defensivkrieges der belgischen Armee – einfach nicht zu schaffen. Mit dem heftigen Widerstand dieses kleinen Landes hatte man von deutscher Seite nicht gerechnet. Der Historiker Alan Kramer meint dazu – unter Bezugnahme auf die Aufzeichnungen führender deutscher Offiziere: „[...] Belgien [wurde] als minderwertiger Nation jedes Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen und sein militärischer Widerstand kriminalisiert […]. Belgien als Nation wurde das Recht, seine Neutralität zu verteidigen, abgesprochen; den belgischen und französischen Zivilisten wurde in Anlehnung daran das Widerstandsrecht aberkannt. Dies stellte eine Art Kriminalisierung dar, die den Weg dafür bereitete, die Zivilisten nicht nach den Regeln des Völkerrechts zu behandeln.

Von deutscher Seite wurde dem belgischen Widerstand vorgeworfen, auf völkerrechtswidrige Strategien zurückzugreifen. Die Belgier würden einen sogenannten Franktireurs-Krieg führen, in dem Zivilisten heimtückisch und aus dem Hinterhalt die Deutschen beschießen würden. Als besonders perfide galt, dass ihr Kombattantenstatus nicht ersichtlich sei. Als Freischärler hätten sie nicht nur keine Uniform, sondern würden darüber hinaus ihre Waffen verdeckt unter der Zivilkleidung tragen. Sie seien somit nicht als Gegner erkennbar. Damit standen Zivilisten pauschal unter dem Verdacht der Freischärlerei, die, so die Mutmaßung, vom belgischen Staat und der katholischen Kirche unterstützt und organisiert würde. Dieser Vorwurf war jedoch fadenscheinig und entsprach nicht der Realität. Fast alle der sogenannten Franktireurs-Angriffe wurden entweder durch reguläre belgische Truppen durchgeführt oder resultierten aus den chaotischen Zuständen innerhalb der deutschen Truppen. Die stete Überforderung der Soldaten, die allgemeine Nervosität, übermäßiger Alkoholkonsum und unübersichtliche Rückzugsgefechte führten dazu, dass wilde Schießereien entstanden, in denen sich die deutschen Truppen unabsichtlich selbst unter Beschuss nahmen – dafür aber die sogenannten Franktireurs verdächtigten.

Zwar mag es vereinzelt bewaffneten Widerstand vonseiten der Zivilbevölkerung gegeben haben, doch bildete dieser die Ausnahme und war keinesfalls von „oben“ organisiert. Dessen ungeachtet wurde in der deutschen Armee die Vorstellung des überall lauernden Franktireurs zum festen Bestandteil der soldatischen Vorstellungswelt, weshalb spätere Autoren von richtiggehenden „Franktireurs-Psychosen“ sprachen. Zusammen mit der psychischen wie physischen Überlastung und den erlittenen militärischen Rückschlägen führte dies zu verheerenden Gewaltausbrüchen gegen die Zivilbevölkerung. So schreibt ein Soldat am 10. September 1914 in einem Brief: „In Belgien machten uns […] die Franktireurs sehr viel zu schaffen. […] Allerdings mußten das die Belgier schwer büßen. In Dörfern, wo auf uns geschossen wurde, haben wir das […] Dorf dem Erdboden gleichgemacht. In einem Dorfe sind von uns 35 Männer und auch einige Frauen erschossen worden, darunter 2 Geistliche. […] Sie liegen alle auf einem Haufen. Die Dorfbewohner wurden zusammengetrieben und mußten dem Akte zusehen, wurden dann wieder entlassen."

Bibliografie 

Kramer, Alan: Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumreich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn/München/Wien/et al. 2009, 281-292

Kramer, Alan: „Greueltaten“. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich,Gerd/Renz, Irene (Hrsg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, 85-114

Überegger, Oswald: „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 241-278

 

Zitate:

„Meine Herren, wir sind jetzt...": Bethmann Hollweg, Theobald, zitiert nach: Kramer, Alan: Kriegsrecht und Kriegsverbrechen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumreich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn/München/Wien/et al. 2009, 282

"Belgien [wurde] als minderwertiger Nation...": Kramer, Alan: „Greueltaten“. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich,Gerd/Renz, Irene (Hrsg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, 91

"In Belgien machten uns...", Brauch, Arthur, zitiert nach: ebd. 101

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.

  • Objekt

    Flucht und Deportation

    Millionen von Menschen flohen während des Krieges vor den Kampfhandlungen und den marodierenden Soldaten. Besonders dramatisch erwies sich die Situation in den ethnisch heterogen zusammengesetzten Gebieten der Ostfront. Neben den Invasoren gingen hier auch die Soldaten des Ansässigkeitsstaates gegen die Bevölkerungsminderheiten vor. Darüber hinaus wurden hunderttausende Zivilisten aus den Front- und Etappenbereichen ins Hinterland zwangsdeportiert: Zum einen, weil da man sie als unzuverlässige „innere Feinde“ betrachtete, zu anderen um sie als Zwangsarbeiter auszubeuten.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Krieg als Lösung?

    Besonders intellektuelle Kreise, Schriftsteller, Künstler, Akademiker, Philosophen, Wissenschaftler usw. versprachen sich vom Krieg die Lösung vieler Probleme, mit denen die Monarchie zu kämpfen hatte. Sie betrachteten den Waffengang als Katharsis, als reinigende Kraft, als eine Chance zur Flucht aus einer geächteten und überdrüssig gewordenen Vorkriegswelt mit ihren scheinbar unlösbaren sozialen und nationalen Konflikten.

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.