Mythen und Narrative: „Der Rest ist Österreich!“ ... oder so ähnlich

„L’Autriche c’est qu’il reste“, „L’Autriche se que reste“, „L’Autriche, c’est qui reste“, „L’Autriche c’est que reste“, „L’Autriche est ce qui reste“

Diese Varianten des berühmten Ausspruchs von Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau finden sich in diversen Publikationen über den Vertrag von Saint-Germain en Laye, in dem Österreichs Grenzen festgelegt wurden. Alle Versionen haben eines gemein: Sie sind sprachlich falsch – und wurden deshalb kaum vom seiner Sprache mächtigen französischen Außenminister so artikuliert. Wie kann es nun, fragt sich der Historiker Manfred Zollinger, zu einer derartigen Vielfalt an falschen Zitierungen kommen, noch dazu bei einer Kernaussage, die den Diskurs um die Vertragsverhandlungen und um Österreichs Status bis heute zentral prägt? Nahe liegt, dass es sich hier um eine Rückübersetzung eines deutschen Satzes handelt. Indem er Österreich lapidar zum Kleinstaat beförderte, sollte Clemenceau zum Urheber der nachfolgenden Katastrophe stilisiert werden. Und dies, wie es in diversen, auch zeitgeschichtlichen Kommentaren ausschmückend hieß, in „höhnischer“, „zynischer“, „spöttischer“, „wegwerfender“ oder „verächtlicher“ Art.

Bisher konnten keine Belege für eine tatsächliche Äußerung durch Clemenceau – in welcher Form auch immer – gefunden werden, weder in Quellen aus der Zeit vor den Friedensverhandlungen noch in nachfolgenden Erinnerungsschriften von Zeitzeugen. Eine erste „Vorform“ des angeblichen Zitats fand sich 1930 beim später von den Nationalsozialisten zum Wiener Bürgermeister beförderten Hermann Neubacher, der im Zusammenhang mit der Liquidation der Donaumonarchie schrieb: „[D]er Rest heißt Österreich“ – dies jedoch noch ohne Bezug auf eine etwaige Urheberschaft durch Clemenceau. Sieben Jahre danach tauchte Neubachers Formulierung beim Historiker Viktor Bibl wieder auf: „’Der Rest heißt Österreich!’ – mit diesem zynischen Wort Clemenceaus wurde die Urkunde des nationalen Selbstbestimmungsrechtes Deutschösterreichs in Stücke zerrissen.“ 1938 wurden schließlich im Handbuch für den Deutschunterricht Zitat und Urheber in die dann nach 1945 geläufige Formel gebracht: „’le reste c’est l’Autriche’, wie Clemenceau sich ausdrückte, ‚Der Rest ist Österreich’“.

Dass diese angebliche Schmähung als ideologische Unterfütterung für die Rechtmäßigkeit des Anschlusses Österreichs an Deutschland diente, ist evident. Es steht in einer konsistenten Reihe von (Selbst-)Bezeichnungen aus der Ersten Republik, die Österreich als „nur einen blutigen Fetzen, ein lebensunfähiges, der Gnade und Ungnade der Sieger preisgegebenes Gebilde“, als „Krüppel“, „Torso“, „Missgeburt“ oder „Blinddarm Europas“ auswiesen. Manches davon wurde im politischen Diskurs der Zweiten Republik in anderen Zusammenhängen als bewusster oder unbewusster Rekurs auf die „Zerstückelung“ Österreichs wieder aufgegriffen. „Der Rest ist Österreich“ wurde zum kontinuierlichen, jedoch immer unhinterfragten Bestandteil der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibung über den Beginn der Ersten Republik.

Bibliografie 

Zollinger, Manfred: „L’Autriche, c’est moi“? Georges Clemenceau, das neue Österreich und das Werden eines Mythos, in: Karner, Stefan (Hrsg.): Österreich – 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck/Wien u.a. 2008, 621-632

 

Zitate:

alle Zitate aus: Zollinger, Manfred: „L’Autriche, c’est moi“? Georges Clemenceau, das neue Österreich und das Werden eines Mythos, in: Karner, Stefan (Hrsg.): Österreich – 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck/Wien u.a. 2008, 621-632

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Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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