Mythen und Narrative: „Der Staat wider Willen“ und „Der Staat, den keiner wollte“
1940 publizierte der Wiener Historiker Reinhold Lorenz sein Buch Der Staat wider Willen über die Zeit nach dem Ende der Monarchie. Seinen eigenen Worten nach verfasste er die Schrift „nach dem festlichen Vollzug des Anschlusses“ auf eine Aufforderung hin, um „das Erlebnis fast unbegreiflicher Verirrungen“, die „glücklicherweise“ ihr Ende gefunden hatten, als Zeitzeuge zu schildern.
Nach der Meinung von Reinhold Lorenz brachte der Anschluss 1938 eine Befreiung für das „erschöpfte“ und „irregeleitete“ Volk und eine Abrechnung mit der Ersten Republik. Der Titel seiner Schrift wurde nach 1945 zum geflügelten Wort in der Literatur über die Erste Republik, freilich ohne dass dessen Entstehung und der politische Hintergrund des Autors – der weitestgehend ungenannt blieb – kritisch hinterfragt wurden.
Schließlich prägte der Publizist und Drehbuchautor Hellmut Andics mit seinem Buchtitel aus dem Jahr 1962, Der Staat, den keiner wollte, jene Negativzuschreibung der Ersten Republik, die in den nachfolgenden Jahrzehnten dominant wurde. Andics’ Buch, eine umgearbeitete Version einer Serie in Die Presse, wurde zum mehrfach aufgelegten Verkaufshit und erreichte in einer Bestsellerliste des Jahres 1963 den zweiten Platz.
Der Titel des Bandes bezog sich auf die Entstehungszeit der Ersten Republik, in der viele führende Politiker skeptisch waren, dass der neue Staat überhaupt überleben konnte. Im Narrativ der Zweiten Republik wurde „Der Staat, den keiner wollte“ zum Synonym für die gesamte Erste Republik und zum Schlagwort einer Logik, nach der dieses Staatsgebilde im Anschluss an das Deutsche Reich enden musste. Andics’ Darstellung bildete den ersten und tonangebenden populärwissenschaftlichen Rückblick nach 1945 und sein Buchtitel fand auch in den geschichtswissenschaftlichen Diskurs Eingang. Kritik an Andics kam zwar postwendend, fand aber kaum Resonanz. 1970 warf der nach Frankreich exilierte Germanist und Historiker Felix Kreissler Andics vor, denselben Skeptizismus zu vertreten wie die führenden Politiker von und nach 1918. Erst um 1990 veränderte sich auch in der österreichischen Geschichtsschreibung die Sichtweise der Ersten Republik weg von einem vorrangig negativen Image hin zu einer differenzierteren Betrachtungsweise.
Auch heute sind Schlagwörter wie „Der Staat wider Willen“ und „Der Staat, den keiner wollte“ als Charakterisierung der Ersten Republik in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören. Dass der November 1918 das Ende eines furchtbaren Krieges und den Beginn der Demokratie in Österreich markiert, dass die Erste Republik für viele weit mehr darstellte als einen Staat, den keiner wollte, dass mit ihr auch unzählige positive Leistungen verbunden sind, wird noch weiter Eingang ins öffentliche historische Gedächtnis finden müssen.
Andics, Hellmut: Der Staat, den keiner wollte, 1962
Goldinger, Walter: Hellmut Andics: Der Staat, den keiner wollte, in: Das Historisch-Politische Buch Jg. XI/1963, Göttingen/Zürich, S. 179f.
Kreissler, Félix: Von der Revolution zur Annexion. Österreich 1918 bis 1938, Wien 1970
Lorenz, Reinhold: Der Staat wider Willen, Berlin 1940
Reisacher, Martin: Die Konstruktion des „Staats, den keiner wollte“. Der Transformationsprozess des umstrittenen Gedächtnisorts „Erste Republik“ in einen negativen rhetorischen Topos. Diplomarbeit Wien 2010, unter: http://othes.univie.ac.at/10190/1/2010-06-07_0252520.pdf (20.06.2014)
Zitate:
„nach dem festlichen Vollzug ...": Lorenz, Reinhold: Der Staat wider Willen, Berlin 1940, 3 (Vorwort)
das „erschöpfte“ und „irregeleitete“ Volk: Lorenz, Reinhold: Der Staat wider Willen, Berlin 1940, 174
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Kapitel
- Der 12. November 1918 als Erinnerungsort
- Der neue Staat sucht seinen Feiertag: Der 12. November als Schauplatz politischer Trennlinien
- Österreich, ein Land ohne Hymne
- Umkämpfte Zonen: Denkmäler und Straßennamen
- Mythen und Narrative: „Der Rest ist Österreich!“ ... oder so ähnlich
- Mythen und Narrative: „Der Staat wider Willen“ und „Der Staat, den keiner wollte“
- Kein Auftrag und trotzdem Erbe: Die Habsburger in Österreich nach 1918