„Der Staat, den keiner wollte“ – keiner?
Die erste Republik ist erinnerungsgeschichtlich gekennzeichnet von der Kriegsniederlage, von den als Katastrophe empfundenen Verhandlungsergebnissen in Saint-Germain, die, geprägt durch das – unbewiesene – Bonmot des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau „Der Rest ist Österreich“, als Schmähung empfunden wurden. Zwei Buchtitel, „Der Staat wider Willen“ und „Der Staat, den keiner wollte“, wurden undifferenziert und in ahistorischer Sichtweise zum Synonym für Österreich zwischen 1918 und 1938. Es entwickelte sich dadurch ein Bild von einem Staat, der schon mit seiner Entstehung dem Untergang zusteuerte und dessen Anschluss an Deutschland schicksalsträchtig oder unausweichlich war. Der „Gedächtnisort“ des 12. November 1918 – der Tag, an dem die Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreich als demokratische Republik ausrief – wurde auch von der Sozialdemokratie zugunsten des großkoalitionären Friedens und einer positiven Hervorhebung der Zweiten Republik geopfert. Die Beendigung des Krieges, die Implementierung einer demokratischen Staatsform, die Hoffnungen, die damit verbunden waren, und die sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der Ersten Republik gerieten im politischen Diskurs der Zweiten Republik in den Hintergrund.