Der 12. November 1918 als Erinnerungsort

Ein welthistorischer Tag ist vorbei. In der Nähe sieht er nicht sehr großartig aus.“ (Tagebuch-Eintragung Arthur Schnitzler)

In der Ersten Republik schlugen sich die starke Polarisierung zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum sowie das tiefe politische Misstrauen zwischen der sozialdemokratischen und christlichsozialen Partei auch in einer gespaltenen Erinnerungskultur und in der divergenten Haltung zu den wichtigsten politischen Gedächtnisorten der Ersten Republik nieder. 

Bei den sozialdemokratischen Gedenkfeiern in Form von großen Demonstrationen, wie etwa bei der Eröffnung des Republikdenkmals im Jahre 1928, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Heimwehr und Schutzbund, ab Anfang der 1930er Jahre auch zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten. Das Ständestaat-Regime wiederum, das die Jahre 1918 bis 1934 als „unglückselige, ‚unösterreichische’ Zwischenperiode“ sah, griff auf politische Narrative und staatliche Symbole zurück, die auf eine Idealisierung der Monarchie abzielten. So sprach Engelbert Dollfuß im Jahre 1933 davon, dass es vordringlich wäre, „den Revolutionsschutt zu beseitigen und an die schönsten Zeiten der Geschichte wiederanzuknüpfen“. Im Jahr 1934 wurden dann die Republikfeiern  zum 12. November 1918 verboten, 1935 hob man das Habsburgergesetz von 1919 auf.

Dass der 12. November 1918 (als Datum der Ausrufung der Republik Deutschösterreich) in der Wiederaufbauphase Österreichs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend die Funktion eines gegen das österreichische Bürgertum gerichteten politischen Gedächtnisortes der Sozialdemokratie verlor, kann vor allem als Folge des „Koalitionsfriedens“ zwischen SPÖ und ÖVP interpretiert werden. Die Verfolgung gemeinsamer überparteilicher Interessen sollte verhindern, dass die tiefen politischen Konflikte der Ersten Republik wieder auflebten. Bei beiden Koalitionsparteien bildete sich die Erste Republik nun immer stärker als Negativfolie für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Zweiten Republik heraus. Während man die Erste Republik als Geschichte des Scheiterns darstellte, galt die Zweite Republik als Erfolgsgeschichte. Symptomatisch dafür war ein Ausspruch Bruno Kreiskys, der als Bundeskanzler 1978 auf einer Parteiveranstaltung meinte, dass aus dem „Staat, den keiner wollte, einer geworden sei, den jeder will“.

Nach 1945 kam der 12. November als Staatsfeiertag nicht mehr in Betracht. Von Karl Renner wurde argumentiert, dass sich der November auch aufgrund des zu erwartenden schlechten Wetters nicht gut für Feierlichkeiten eignen würde. 1965 einigte man sich auf den 26. Oktober (1955), den Tag des Beschlusses des Bundesverfassungsgesetzes über die österreichische Neutralität. Der Ausrufung der Ersten Republik wurde zwar ab 1948 in zehnjähriger Abfolge in offiziellen Feierlichkeiten vonseiten der Regierung gedacht, der Gedenktag verlor aber bei beiden Parteien immer stärker an politischer Bedeutung.

Bibliografie 

Cole, Laurence: Der Habsburger-Mythos in: Brix, Emil et al.: (Hrsg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien 2004, 473-504

Rasky, Bela: Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918, in Müller, Karl (Hrsg.): Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film, Wien u.a. 2009, 25-58

Reisacher Martin: Die Konstruktion des „Staats, den keiner wollte“. Der Transformationsprozess des umstrittenen Gedächtnisorts „Erste Republik“ in einen negativen rhetorischen Topos. Diplomarbeit Wien 2010. Unter: http://othes.univie.ac.at/10190/1/2010-06-07_0252520.pdf (20.6.2014)

 

Zitate:

„Ein welthistorischer Tag ist vorbei ...": Pfoser, Alfred: Was nun? Was tun? Zehn Blitzlichter zur literarischen Szene der Jahre 1918 bis 1920, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.,) Das Werden der Ersten Republik Bd. I, ... Der Rest ist Österreich, Wien 2008, 173-196, hier 176

„den Revolutionsschutt zu beseitigen ...": zitiert nach: Rasky, Bela: Erinnern und Vergessen der Habsburger in Österreich und Ungarn nach 1918, in Müller, Karl (Hrsg.): Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film, Wien u.a. 2009, 31

„Staat, den keiner wollte ...": AZ, 12.11.1978, 1

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.