Die von den Mittelmächten in schwere Bedrängnis gebrachten Balkanstaaten erwiesen sich schließlich als Sieger eines vierjährigen Massenschlachtens. Neben der territorialen Vergrößerung Rumäniens scharten sich um Serbien vor allem Slowenen und Kroaten, um einen multiethnischen Staat der Südslawen zu bilden. Wie in anderen Regionen wurde allerdings auch auf dem Balkan die politische Landkarte neu gezeichnet, ohne dadurch für dauerhafte Stabilität zu sorgen. Der „große Krieg“ verwandelte sich solcherart in verschiedene kleinere Konfliktzonen. Zugleich wurde offensichtlich, dass Probleme, die bereits vor 1914 deutlich zu Tage getreten waren, keineswegs gelöst, sondern vielfach sogar verschärft wurden. Die Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen unter solchen Bedingungen nicht zuletzt auf dessen Ende, auf den nationalen Hass und die „ethnischen Säuberungen“ der 1990er Jahre.
Der Zerfall des Habsburgerreiches verwandelte zentral-, mittelost- und südosteuropäische Gebiete in Krisenregionen. Speziell um die Länder der Stephanskrone kam es zu militärischen Auseinandersetzungen, an denen neben den neugegründeten Staaten der Tschechen und Slowaken sowie der Südslawen vor allem Rumänien beteiligt war. In diesem Konfliktkonglomerat aus territorialen Ansprüchen, nationalen, sozialen, ökonomischen und ideologischen Kontroversen spielte Räteungarn eine bedeutende Rolle, zumal die Sowjetparolen der „Oktoberrevolution“ in Budapest aus den gegnerischen Regierungen in Prag, Belgrad und Bukarest gleichzeitig Träger eines antibolschewistischen Interventionskurses der Alliierten machten. Wenig überraschend präsentierten sich vor diesem Hintergrund speziell Rumänien und Griechenland als Stützen und Operationsbasen für einen unmittelbaren Angriff auf den bolschewistischen Machtbereich im ehemaligen Zarenreich.
Der Balkanraum blieb zudem aufgrund der Auflösung des Osmanischen Reiches und der Pariser Vororteverträge ein „Pulverfass“. Ungarn, das in Trianon fast 70 Prozent seines früheren Staatsgebietes und 59 Prozent seiner bisherigen Bevölkerung – darunter drei Millionen Magyaren – verlor, wandte sich speziell unter rechtsorientierten beziehungsweise autoritären Regierungen auf lange Sicht einer verhängnisvollen Revisionspolitik zu. Bulgarien erging es im Unterschied dazu zwar etwas besser. Trotzdem musste Sofia im Frieden von Neuilly auf den Zugang zur Ägäis verzichten, obendrein Reparationszahlungen leisten und wie auch die anderen Verliererstaaten seine Streitkräfte deutlich reduzieren.
Als erste opponierten schließlich die Türken gegen die ihnen in Sèvres vorgelegten Friedensbedingungen der Entente, welche unter anderem den Griechen anatolische Besitzungen zubilligten. Der „übriggebliebene Rumpf“, der zur Sicherung von Okkupationskosten auch noch einer alliierten Finanzkontrolle unterworfen war, beendete mit der „nationalen Revolution“ unter Kemal Pascha die Herrschaft des Sultans, der das Übereinkommen von Sèvres unterzeichnet hatte. Eine Republik entstand, die für Anatolien die volle Souveränität beanspruchte, den Rückzug der Ententetruppen erzwang und sich durch einen groß angelegten Bevölkerungsaustausch auch ethnisch von den Griechen abgrenzte. Der auf dieser Basis geschlossene Vertrag von Lausanne (1923) brachte unter solchen Bedingungen keine Lösung der Konflikte. Die Geschehnisse vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zu den beginnenden 1920er Jahren legten vielmehr vom Donau- bis zum Ägäisraum den Grundstein für neue Streitigkeiten und insbesondere nationale Rivalitäten.
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011
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Kapitel
- Ausblendung der Balkanfront
- Der Krieg vor dem Krieg
- Sarajewo und die Julikrise
- Ethnischer Konflikt und Brutalisierung der Kämpfe
- Ernüchterung der Militärs – Die gescheiterte „Strafexpedition“
- „Erfolge der Bündnispartner“
- Die Besatzungsregimes in verschiedenen Regionen
- Rumäniens Kriegseintritt und Niederlage gegen die Mittelmächte
- Griechenland an der Seite der Entente
- 1918 - Der Friede zwischen Rumänien und den Mittelmächten
- Konsequenzen des Krieges auf dem Balkan