Sind die Großmächte in den Ersten Weltkrieg 'hineingerutscht', wie oft behauptet wird? Oder gab es hinter der offiziellen politischen Rhetorik handfeste 'materielle' Interessen, die einen Krieg erstrebenswert erscheinen ließen?
Der Erste Weltkrieg wurde von vielen Zeitgenossen und Historikern als ein 'imperialistischer' Krieg gebrandmarkt. Damit ist vor allen Dingen gemeint, dass er nicht unerwartet oder 'zufällig' ausbrach. Das letzte Jahrzehnt vor 1914 war eine Zeit zunehmender politischer Spannungen zwischen den europäischen Großmächten in verschiedenen Teilen der Welt, am Balkan genauso wie in Afrika und auf den Weltmeeren. Zugleich versuchten die Staaten ihre Einfluss-Sphären auch ökonomisch abzusichern. Österreich-Ungarn spielte im Weltkonzert des 'Imperialismus' eine untergeordnete Rolle. Abgesehen von dem Versuch, 1914 gemeinsam mit Italien Einfluss auf die Gründung der Nationalbank des erst ins Leben zu rufenden albanischen Staates zu nehmen, bestand die einzige 'koloniale' Eroberung der Monarchie in der Kontrolle über das 1878 okkupierte und 1908 annektierte Bosnien-Herzegowina (Bosna i Hercegovina). Man mag es daher nicht als Zufall betrachten, dass der Anschlag, dem der österreichische Thronfolger und seine Frau zum Opfer fielen, und der den Anlass zum Großen Krieg gab, ausgerechnet in Sarajevo stattfand.
Das Attentat vom 28. Juni 1914 hatte – so erniedrigend es auch für Österreich-Ungarn gewesen sein mag – nur regionale Bedeutung. Erst aufgrund der Bündnisse zwischen den europäischen Großmächten konnte daraus der berühmte zündende Funke am Pulverfass werden, der die Welt explodieren ließ. In dieser anfangs als 'lokal' betrachteten Konstellation mag der Schlüssel für die Sorglosigkeit zu finden sein, mit der die Politiker und Militärs der Monarchie die Gefahr der Ausweitung zu einem europäischen Krieg bagatellisierten und in einen Krieg zogen, den sie – blind für die Folgen ihres Tuns – als serbisch-österreichisch-ungarische Auseinandersetzung betrachteten.
Der deutsche Historiker Fritz Fischer hat vor vielen Jahren mit dem Buch Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918 (erschienen 1961) die Debatte um die Querverbindungen zwischen politischer und wirtschaftlicher Sphäre mit der provokanten These eröffnet, dass das Deutsche Reich nicht in die bewaffneten Auseinandersetzungen 'hineingeschlittert' sei, sondern bewusst hegemoniale Ziele verfolgt, die Donaumonarchie zum Losschlagen ermuntert und jede friedliche Beilegung des Konflikts hintertrieben habe.
Ohne auf die Details dieser Jahrzehnte dauernden Kontroverse einzugehen, ist festzuhalten, dass Österreich-Ungarn von einer Mitschuld am Ausbruch des Großen Krieges nicht freigesprochen werden kann. Insbesondere der Chef des Generalstabes der k. u. k. Armee, Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf, war schon lange vor dem Sommer 1914 als Befürworter eines Präventivkrieges gegen Serbien (und Italien) hervorgetreten. Er betrachtete den Balkan – auch wenn Österreich-Ungarn zur Ausübung einer wirtschaftlichen Vorherrschaft gar nicht fähig war – als gleichsam 'natürliche' Interessensphäre der Monarchie.
Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013
Janz, Oliver: Der Große Krieg, Frankfurt am Main 2013
Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2013
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Kapitel
- Die tieferen Ursachen des Ersten Weltkrieges
- Die Torheit der damals Regierenden
- Schumpeters Imperialismus-Theorie: Drängte das 'Großkapital' zum Krieg?
- Ein Staat, der über seine Verhältnisse lebt
- Probleme der Kriegswirtschaft
- Höhepunkt und Absturz der ökonomischen Kriegsleistung
- Verschiebungen in der Produktionsstruktur
- Die Änderung der sozialen Kräfteverhältnisse im Verlauf des Krieges