Schumpeters Imperialismus-Theorie: Drängte das 'Großkapital' zum Krieg?

In Bosnien-Herzegowina (Bosna i Hercegovina) war – wie auch in den meisten Kolonien, die das mit der Donaumonarchie verbündete Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg besetzt hatte – salopp gesagt wirtschaftlich 'wenig zu holen'. Wie sinnvoll waren – ökonomisch betrachtet – solche Eroberungen? Spielten wirtschaftliche Erwägungen im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch überhaupt eine gewichtige Rolle?

In den zeitgenössischen marxistischen Theorien (wie in Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus") wurden dem 'Großkapital' aggressive 'imperialistische' Ambitionen unterstellt. In Österreich-Ungarn scheinen solche Tendenzen nicht bzw. nicht in nennenswertem Maß vorhanden gewesen zu sein. Das Habsburgerreich war wirtschaftlich viel zu schwach, um eine nach außen gerichtete aggressive Politik der Kapitaldurchdringung zu betreiben. Spätere marxistische Theoretiker haben daher von einem „Binnenimperialismus“ gesprochen, der in Investitionen der Wiener Banken in den unterentwickelten Randgebieten der Monarchie zum Ausdruck gekommen sei, wo reiche Bodenschätze – wie das Erdöl in Galizien – der Erschließung harrten.

Eine Imperialismus-Theorie, die auf die Eigenheiten der mitteleuropäischen Entwicklung Bezug nimmt, stammt von dem bekannten österreichischen Ökonomen Joseph Alois Schumpeter. Sie wurde unmittelbar nach Kriegsende in Abgrenzung von den marxistischen Autoren formuliert, fasste den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Kalkül und politischen Expansionsbestrebungen sehr viel loser und versuchte, den Begriff „Imperialismus“ historisch wie geostrategisch zu spezifizieren. Er sah – mit Blick auf den eben beendeten Krieg – eine unheilvolle Allianz zwischen den alten „kriegerischen Herrenklassen“ (welche die Außenpolitik und das Militär kontrollierten) und den aggressiven Repräsentanten der Schwerindustrie am Werk, welche den Weg in den Krieg beschritten hätten. Schumpeters Theorie passt sehr gut in das Bild, das die österreichisch-ungarische Monarchie 1914 bot und das der bereits erwähnte Bankier Rudolf Sieghart mit einer Anekdote untermauerte: Als er in den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges ein Gespräch mit Graf János Forgách, einem engen Vertrauten des Außenministers Leopold Berchtold, ein Gespräch über die Gefahren eines Krieges mit dem mit Serbien verbündeten Russland führte, erhielt er – vorgetragen „mit einer unbeschreiblichen Mischung aus Gleichgültigkeit und Überheblichkeit", wie der Bankier vermerkt – die lapidare Antwort: „Nun, so wird es halt losgehen."

Schumpeter hob Äußerungen wie diese auf die Ebene der theoretischen Reflexion, als er schrieb, dass der Imperialismus der Jahre vor 1914 „die Kriegsmaschine, ihre sozialpsychische Atmosphäre und das kriegerische Wollen“ der alten Zeit „mitgeerbt“ hatte und sich „eine kriegerisch orientierte Klasse in herrschender Position erhielt, mit der sich von allen Interessen der Bourgeoisie gerade die kriegerischen alliieren konnten. (…) Diese Allianz hielt die Kampfinstinkte und Ideen von Herrschaft, Mannesherrlichkeit und Siegesglanz am Leben, die sonst lange schon gestorben wären“ und die Europa „mit steter Kriegsgefahr“ bedrohten.

Bibliografie 

Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013

Janz, Oliver: Der Große Krieg, Frankfurt am Main 2013

März, Eduard: Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981

Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2013

Schumpeter, Joseph A.: Zur Soziologie der Imperialismen, in: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, 74ff

Zitate:

„mit einer unbeschreiblichen Mischung …“: Sieghart, Rudolf: Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932, 174

„die Kriegsmaschine, ihre sozialpsychische Atmosphäre …“: Schumpeter, Joseph A.: Zur Soziologie der Imperialismen, in: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, 145-146

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    Das Reich der Habsburger

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