Die Änderung der sozialen Kräfteverhältnisse im Verlauf des Krieges

Aus Kriegsbegeisterung wurde im Lauf des Krieges revolutionärer Unmut; auch die Zusammensetzung der Arbeiterschaft änderte sich.

Zwar war im Sommer 1914 die Kriegsbegeisterung bis weit in die Reihen der Arbeiterschaft hinein groß. Durchgesetzt wurde die Disziplin in den Fabriken jedoch mit quasi-diktatorischen Mitteln. In der Struktur der Arbeiterschaft ergaben sich im Lauf des Krieges große Änderungen: Die Einberufung der Stammbelegschaften bewirkte einen weitgehenden Austausch der Arbeitskräfte. An die Stelle der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter traten in steigendem Ausmaß angelernte Arbeitskräfte; Frauen ersetzten die Männer. Zu den durch den Austausch der Arbeiter bewirkten Lohnsenkungen traten Reallohnverluste, die von der Inflation verursacht waren. Das Absinken der Kaufkraft hing auch mit der Beschränkung des lohnpolitischen Bewegungsspielraums der Gewerkschaften in den ersten Kriegsjahren zusammen. Der Kriegsabsolutismus, der die legistische Grundlage im § 14 des Staatsgrundgesetzes hatte, wurde erst im Herbst 1916 gelockert. Damit im Zusammenhang kam es zu einer Wiederaufwertung der Gewerkschaften.

Der Prozess der politischen Radikalisierung insbesondere der jungen, nicht in der Tradition der gewerkschaftlichen Disziplin 'erzogenen' Arbeiter und Arbeiterinnen, die auf die drastisch verschlechterten Lebensbedingungen zunehmend wütend reagierten, intensivierte sich, je länger der Krieg dauerte. Im Jargon der Behörden sprach man von „Pöbel". Schon im Frühjahr 1916 war es – ausgelöst durch Engpässe bei der Belieferung mit Lebensmitteln und die exorbitante Steigerung der Nahrungsmittelpreise – zu Demonstrationen, Streiks und Hungerkrawallen auf dem Gebiet des späteren Österreich wie auch in den tschechischen Industriezentren gekommen. 1917 nahmen die Arbeitskämpfe und Demonstrationen eine neue Dimension an.

Ihren Höhepunkt erreichte die Unruhe unter der Arbeiterschaft zu Anfang des Jahres 1918 im sogenannten 'Jännerstreik', einer großen Streikwelle in allen Zentren der Rüstungsindustrie, welche die Monarchie an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs brachte. Ausgelöst durch den Streik kam es auch zur Meuterei der Matrosen von Cattaro. Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung waren über 700.000 Arbeiter im Ausstand. Der Streik hatte auch politische Motive, weil die Arbeiter ihre Solidarität mit der durch deutsche Annexionsforderungen unter Druck gesetzten russischen Revolution (Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk) bekundeten. Zeitgleich fand im Deutschen Reich eine große Streikbewegung statt, an der über 1 Million Menschen teilnahmen.

1918 nahmen nicht nur die sozialen Auseinandersetzungen an Intensität zu. Auch wegen der durch den Lebensmittelmangel sinkenden Leistungsfähigkeit der Arbeiter und der sich häufenden Unterbrechungen des Produktionsprozesses aufgrund von Material- und Brennstoffmangel kann kaum noch von regulären Produktionsverhältnissen gesprochen werden. Im Oktober 1918 begann schließlich auch noch die Front abzubröckeln. Tschechische und andere 'nationale' Regimenter weigerten sich weiterzukämpfen. Die zurückflutenden kriegsmüden Soldaten verbanden sich mit den radikalisierten Arbeitern in den Industriezentren zu einer revolutionären Masse, die das soziale und politische Leben auch im beginnenden Frieden bestimmte.

Bibliografie 

Hautmann, Hans: Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs, Wien 1971

Maderthaner, Wolfgang: Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.): ... der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Band 1, Wien 2008, 187–206

März, Eduard: Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nein zum Krieg

    Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Stimmen wurden laut, die „Nein“ zum Krieg sagten. Dazu gehörten sowohl Vertreterinnen und Vertreter der österreichischen Friedensbewegung und Frauenbewegung als auch Teile der österreichisch-ungarischen Bevölkerung. Sie wurden im Verlauf des Konfliktes immer „kriegsmüder“, was sich in Streikbewegungen und Hungerkrawallen ebenso äußerte wie im Phänomen der Massendesertionen von Frontsoldaten am Ende des Krieges.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Objekt

    Auf der (Fahnen)Flucht

    Desertion war ein Phänomen, das die Armeen im Ersten Weltkrieg alle vier Jahre lang begleitete – so auch die multinationale Habsburgerarmee. Diese amtliche Kundmachung aus dem Jahr 1915 thematisiert in drei Sprachen (Ungarisch, Deutsch und Serbisch) Fälle von Desertion durch Kriegsgefangene und deren „absichtliche“ Unterstützung durch die heimische Zivilbevölkerung. Diese wird – als „Verbrechen gegen Heereslieferungen“ – unter „unerbittlich[e]“ Bestrafung gestellt

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?