Nach Meinung Rudolf Siegharts, des Gouverneurs einer der größten und einflussreichsten Wiener Banken vor 1914, der Boden-Credit-Anstalt, führte die „Torheit der damals Regierenden“ geradewegs in den Krieg. Die Boden-Credit-Anstalt galt als Bank, die dem Kaiserhaus besonders nahe stand.
Es mag auf den ersten Blick eigenartig erscheinen, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die 'herrschenden Klassen' – die wirtschaftlichen und politischen Eliten und (sofern es die militärische Strategie betrifft) die militärischen Führer der Krieg führenden Länder – in einem gewissen Sinn schlecht vorbereitet traf. Wirtschaftliche und über den Tag hinausgehende Kriegsplanungen gab es so gut wie gar nicht. Dies überrascht umso mehr, als die zwei Balkankriege von 1912 und 1913 nicht nur die politischen Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien verschärft, sondern auch innerhalb der Monarchie zu einer Stärkung panslawistischer Strömungen geführt und auf dem Balkan selbst die Zuspitzung ethnischer Konflikte provoziert hatten. Darüber hinaus führte die durch die Kriege ausgelöste Teilmobilisierung zu einer weiteren Belastung der ohnehin angespannten öffentlichen Finanzen der Monarchie.
Noch vor dem Ersten Balkankrieg war es zur jungtürkischen Revolution gekommen, durch welche die türkische Zentralmacht geschwächt wurde. Im Zusammenhang damit annektierte Österreich-Ungarn 1908 die seit 1878 besetzten türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina (Bosna i Hercegovina) und löste damit nicht nur die sogenannte 'Annexionskrise' aus, welche die Gefahr eines kriegerischen Konflikts zwischen den europäischen Großmächten auf die Tagesordnung setzte, sondern provozierte auch eine Radikalisierung der nationalistischen Kräfte in Serbien. Im Zusammenhang damit entstand 1911 auch jene Organisation (Ujedinenje ili smrt), die 1914 hinter dem Attentat von Sarajewo (Sarajevo) stand.
Die Militärs ignorierten die Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges von 1904/05, welcher der Welt die verheerenden Folgen des Maschinengewehrs und die eminente strategische Rolle der Logistik in einem modernen 'industriellen' Krieg vor Augen geführt hatte. Noch viel weniger machte man sich Gedanken über die volkswirtschaftlichen Folgen eines Jahre dauernden Krieges mit Hunderttausenden von Toten und Invaliden. Dabei hatte der polnische Eisenbahnunternehmer und Bankier Jan Bloch (deutsch: Johann von Bloch) schon 1899 auf die großen Änderungen der künftigen Kriegführung hingewiesen.
Manche hohe Militärs sehnten den Krieg geradezu herbei. Schon 1908 wollte Conrad von Hötzendorf einen Präventivkrieg gegen Serbien führen und das Land annektieren. Eine Vorstellung von den Dimensionen der auf Österreich-Ungarn zukommenden militärischen und wirtschaftlichen Probleme gab es nicht. Die Militärs waren – das ist das Beste, was sich über sie sagen lässt – in einem Maß naiv und überheblich, das sogar einen Repräsentanten der haute finance wie Rudolf Sieghart, den Gouverneur der Boden-Credit-Anstalt, überraschte: „Bis zum letzten Augenblicke", schreibt er in seinen Memoiren, „habe ich an den Krieg nicht geglaubt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Österreich-Ungarn, von allen Großmächten der Staat mit der schwächsten Peripherie, mit seiner nach mehreren Fronten hin offenen Lage, mit der magnetischen Anziehungskraft der zahlreichen Nationsgenossen jenseits der Grenze auf die gleichnationalen Staatsbürger, sich in ein so gewagtes Abenteuer stürzen würde. Noch immer begreife ich die Torheit der damals Regierenden nicht, und am allerwenigsten ihren kindlichen Glauben, Österreich-Ungarn würde es allein mit Serbien zu tun haben.“
Bloch, Johann: Der Krieg. Übersetzung des russischen Werkes des Autors. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung, 6 Bände, Berlin 1899
Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013
Janz, Oliver: Der Große Krieg, Frankfurt am Main 2013
Kann, Robert A. et al. (Hrsg.): The Habsburg Empire in World War I (East European Monographs, No. XXIII), New York 1977
Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2013
Sieghart, Rudolf: Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932
Zitate:
„Bis zum letzten Augenblicke …": Sieghart, Rudolf: Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932, 168
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Kapitel
- Die tieferen Ursachen des Ersten Weltkrieges
- Die Torheit der damals Regierenden
- Schumpeters Imperialismus-Theorie: Drängte das 'Großkapital' zum Krieg?
- Ein Staat, der über seine Verhältnisse lebt
- Probleme der Kriegswirtschaft
- Höhepunkt und Absturz der ökonomischen Kriegsleistung
- Verschiebungen in der Produktionsstruktur
- Die Änderung der sozialen Kräfteverhältnisse im Verlauf des Krieges