Die Tschechen verfügten gegen Ende des 19. Jahrhunderts über ein voll entwickeltes Parteienspektrum, wobei die parlamentarischen Vertreter der Tschechen im Wiener Reichsrat verschiedenen politischen Lagern zuzuordnen waren.
Das stärkste und einflussreichste Lager war das der national-bürgerlichen Parteien. Die dominierende Stellung hatte lange Zeit die altehrwürdige Nationalpartei (Národní strana), auch Alttschechen (Staročeši) genannt. Gegründet 1861, war sie die Speerspitze der politischen Emanzipation der nationalbewussten Tschechen. Später entwickelte sie sich zu einer Honoratiorenpartei des ökonomisch gesättigten, etablierten Bürgertums, vergleichbar mit den Deutsch-Liberalen unter den deutschen Parteien. Analog zur Entwicklung bei ihren deutschen Gesinnungsgenossen wurden auch die Alttschechen zunehmend von der radikaleren Freisinnigen Nationalpartei (Národní strana svobodomyslná), besser bekannt unter der Bezeichnung Jungtschechen (Mladočeši), verdrängt, die sich 1874 endgültig von der alten Mutterpartei abspalteten. Die Jungtschechen verfolgten eine prononciert nationale Linie und bildeten das tschechische Pendant zu den liberalen Deutschnationalen. Beide Parteien verbanden die Ablehnung des Klerikalismus, die sich bis hin zum kämpferischen Antikatholizismus steigern konnte, und die Betonung von nationalistischem Gedankengut. Trotz vergleichbarer Positionen und einer ähnlichen Radikalität bei deren Durchsetzung standen sie sich durch die nationalen Schranken getrennt feindlich gegenüber.
Ebenfalls ins Lager der bürgerlichen Parteien gehörten Kleinparteien wie die Tschechische Fortschrittspartei (Česká strana pokroková), deren bedeutendstes Mitglied der spätere erste tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk war, sowie die Radikale Staatsrechtspartei (Strana statoprávní radikalně). Beide Parteien verfolgten eine stark von demokratischen Idealen geprägte Politik, deren langfristiges Hauptziel die Errichtung eines unabhängigen tschechischen Staates war.
Das linke Lager wurde durch die zunehmende Nationalisierung der Politik deutlich geschwächt. Entgegen dem Ideal der supranationalen Solidarität der Arbeiterklasse kam es hier zu einer Spaltung entlang ethnischer Grenzen. Die Tschechoslawische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Českoslovanská sociálně demokratická strana dělnická; gegr. 1878) fand unter den nationalbewussten tschechischen Industriearbeitern großen Rückhalt. 1911 spaltete sich der zentristische Flügel ab, der einen internationalistischeren Zugang verfolgte und sich an der gesamtösterreichischen Sozialdemokratie orientierte.
Die National-soziale Partei (Strana národně sociální, gegr. 1897/1899), war eine weitere Abspaltung der Sozialdemokraten und verknüpfte soziale Anliegen mit einer stark nationalen, teilweise nationalistisch-chauvinistischen Sichtweise. Unterstützung fand diese Partei in den nationalen Kreisen der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums.
Auch das national-katholische Milieu war stark zersplittert. Der Grund dafür waren die stark liberalen bis antikatholischen Tendenzen in der tschechischen Nationswerdung. Als politische Kraft etablierte sich das christliche Lager nur im stärker katholisch geprägten Mähren, wo die Christlich-soziale Partei (Křesťansko-sociální strana; gegr. 1896), die sich eindeutig zum tschechischen nationalen Programm bekannte, eine ähnliche Bedeutung erlangte wie ihr christlich-soziales Gegenstück in den deutschsprachigen Reichsteilen.
Im ländlichen Raum spielte weiters die Tschechische Agrarpartei (Česká strana agrární; um 1900 als Zusammenschluss mehrerer Kleinparteien entstanden), die sich aus den national-liberalen Parteien heraus entwickelt hatte, eine wichtige politische Rolle. Während sich die Liberalen zunehmend auf das urbane Klientel der wachsenden Mittelschicht konzentrierten, wurden die Agrarier das Sprachrohr der Landwirte. Typisch für die berufsständische Ausrichtung dieser Partei waren die stark ökonomisch geprägten Ziele wie eine Stärkung des Genossenschaftswesens, ohne jedoch dabei auf tschechisch-nationale Forderungen zu vergessen.
Ein Relikt der Zeit vor der Entstehung moderner Massenparteien war schließlich die Partei des konservativen Großgrundbesitzes (Strana konzervativního velkostatku). Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1911 war diese nur mehr im Herrenhaus dank der erblichen Sitze für (zumeist adelige) Großgrundbesitzer vertreten. Es war dies ein Sammelbecken für liberale Vertreter des Adels, die sich zu den Forderungen des Böhmischen Staatsrechts bekannten (also einer Autonomie der böhmischen Länder innerhalb der Habsburgermonarchie), national jedoch ambivalent blieben. Sie verstanden sich als „böhmisch“ und nicht als tschechisch im modernen nationalen Sinn.
Insgesamt waren nach den Reichsratswahlen von 1911 – den letzten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges – 108 tschechische Abgeordnete (von insgesamt 516 Sitzen) aus mehrheitlich tschechischsprachigen Wahlbezirken im Wiener Parlament vertreten. Nach empfindlichen Verlusten der radikal-nationalistischen Jungtschechen holten nun die Agrarpartei, die Sozialdemokraten und die National-soziale Partei stark auf.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch