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Thema Die Tschechen
Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
Die Forderung einer Autonomie für Böhmen wurde zu einem Kernpunkt der nationalen Bewegung, die nun bereits ein Massenphänomen war. Aus tschechischer Sicht wurde Böhmen als politische Nation mit dezidiert tschechischem Charakter gesehen – bewusst ausklammernd, dass dies dem ethnischen Nationsbegriff widersprach: Denn „die Böhmen“ gab es nicht mehr, die nationale Agitation kannte nur mehr Tschechen und Deutsche.
„Wir waren vor Österreich da, wir werden es auch nach ihm sein.“
Dieser Ausspruch des Doyens der tschechischen Nationalbewegung, František Palacký, zeigt die Enttäuschung nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867.
Dies führte zu einer Verhärtung der Fronten zwischen den beiden Sprachgruppen im Land. Denn die tschechische Forderung nach einer Autonomie Böhmens wurde von den böhmischen Deutschen abgelehnt, die dadurch in die Position einer ethnischen Minderheit gelangt wären. Die Vertreter des zentralistisch eingestellten deutsch-liberalen Lagers, die die Regierung stellten, sprachen sich für die Beibehaltung des Status quo aus, wonach den Tschechen zwar nationale Rechte auf lokaler Ebene gewährt, die böhmischen Länder aber weiterhin von Wien aus regiert würden. Radikaler waren die Forderungen der Deutschnationalen, die eine Teilung Böhmens nach ethnischen Grundsätzen verlangten und für die deutschsprachigen Landesteile den Zusammenschluss mit den deutschsprachigen Donau- und Alpenländern bzw. mit Deutschland planten. Dies wiederum wurde von den Tschechen abgelehnt, die auf den historischen Grenzen beharrten und sich als Mehrheitsbevölkerung und Träger der böhmischen Staatlichkeit verstanden.
Die Kontroverse um die böhmische Frage wurde in der Folge zum bestimmenden Thema in Cisleithanien. Die tschechischen Abgeordneten im Reichsrat verweigerten mit ihrer Obstruktionspolitik die Kooperation mit der Regierung. Die Teilnahme am politischen Geschehen im Reichsrat erschöpfte sich in der Verlesung von Protestnoten und dem darauf folgenden demonstrativen Auszug aus den Sitzungen, was aber auf Dauer zu einer Isolation der Tschechen im Reichsrat führte.
Nach dem Sturz der liberalen Regierung 1871 versuchte das stärker föderalistisch ausgerichtete Kabinett Hohenwarth eine Wiederannäherung an die Tschechen. Es kam zu Geheimverhandlungen mit den Spitzenvertretern der tschechischen politischen Szene. Das Ergebnis waren die Böhmischen Fundamentalartikel, die ein deutliches Entgegenkommen gegenüber den tschechischen Forderungen darstellten. Sie beinhalteten die Anerkennung der böhmischen Staatlichkeit in ihren historischen Grenzen und eine weitgehende Gleichstellung der Tschechen mit den Deutschen in den böhmischen Ländern. Das Ergebnis wäre eine Art „Ausgleich light“ gewesen.
Dieser Kompromiss scheiterte jedoch am Widerstand der Deutschen nicht nur der böhmischen Länder, sondern ganz Cisleithaniens. Es kam zu massiven Solidaritätsaktionen in allen deutschsprachigen Gebieten Österreichs. Auch die Maygaren sprachen sich dezidiert gegen die Aufweichung des Dualismus aus. Nachdem auch dieser neuerliche Versuch eines böhmischen Ausgleichs gescheitert war, bedeutete dies für die Tschechen das Ende der Zusammenarbeit mit dem Gesamtstaat Österreich.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Kořalka, Jiří/Crampton, Richard J.: Die Tschechen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 489–521
Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch