Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise

Kurz vor 1900 kam es zu einem Wandel in der politischen Kultur: Dank Wahlrechtsreformen hatten nun breitere Volksschichten Zugang zu politischer Mitbestimmung. Dies führte wider Erwarten zu einer Radikalisierung. Nun standen sich in Böhmen Deutsche und Tschechen kompromisslos gegenüber – und beide Volksgruppen sahen im österreichischen Gesamtstaat eine Fessel für ihre nationale Entfaltung.

In den 1880er Jahren kehrten die tschechischen Abgeordneten in den Reichsrat zurück und verkündeten das Ende der Obstruktionspolitik, die sich als kontraproduktiv erwiesen hatte. „Realpolitik“ war die Devise – in kleinen Schritten wollte man nun zum großen Ziel gelangen: der Autonomie Böhmens.

Die konservative Regierung Taaffe begann eine Kooperation mit den Tschechen, die im Gegenzug der Regierung die Mehrheit im Parlament sichern sollten. Teil des Entgegenkommens war, dass nun in den böhmischen Ländern Amtshandlungen in jener Sprache abzuwickeln seien, in der die Eingabe gehalten war. Damit hätten auch die Behörden in rein deutschen Bezirken einen tschechischsprachigen Amtsverkehr gewährleisten müssen. Dies wurde von den Deutschböhmen abgelehnt, da dies de facto die völlige Zweisprachigkeit der Beamten bedeutet hätte.

Die Deutschböhmen waren jedoch in die Defensive geraten. Im böhmischen Landtag waren sie bereits in der Minderheit, und auch im Reichsrat kamen die ehemals privilegierten Deutschen in Bedrängnis, da im Zuge der Wahlrechtsreformen immer breitere Bevölkerungsteile auch der nicht-deutschen Sprachgruppen Zugang zu politischer Mitbestimmung erhielten.

Davon profitierten vor allem die neuen, radikalen Massenparteien, die den Reichsrat nun dominierten. Innerhalb der tschechischen politischen Szene wurden die Jungtschechen mit ihrer radikal nationalistischen Ideologie zur bestimmenden Kraft. Sie begannen eine massive nationale Agitation rund um die Forderung der Umgestaltung der böhmischen Länder in einen tschechischen Staat mit tschechischer Staatssprache und weitreichender Autonomie innerhalb einer föderalisierten Habsburgermonarchie.

Bei den Reichsratswahlen 1891 fuhren die Jungtschechen einen Triumph ein. Als jedoch auf ihre Forderungen nicht eingegangen wurde, kam es zu Ausschreitungen, die zur Verhängung des Ausnahmezustandes in Prag und Brünn führten. Die tschechischen Abgeordneten gingen nun in Opposition zur Regierung. Der desavouierte Ministerpräsident Taaffe wurde zum Rücktritt gezwungen (1893).

Sein Nachfolger Graf Kasimir Badeni, Regierungschef seit 1895, versuchte sich – anders als Taaffe, dessen Politik auf Konsens ausgelegt war – als starker Mann, der über den Parteien- und Nationalitätenhader hinweg Lösungen durchzusetzen wollte.

Im Nationalitätenkonflikt in Böhmen versuchte er die stimmenstarken Jungtschechen aus der Opposition zu holen, indem er 1897 eine Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren erließ. Demnach sollte die völlige Zweisprachigkeit der Verwaltung nach innen und außen eingeführt werden. Die Beamten sollten nun den Nachweis der Beherrschung beider Landessprachen erbringen. Dies hätte die Tschechen bevorzugt, da unter deren Bildungsschichten die Kenntnis des Deutschen Standard war, während sich der Großteil der Deutschböhmen weigerte, Tschechisch als ebenbürtige Sprache anzuerkennen.

Massive Proteste in den deutschböhmischen Gebieten, aber auch in anderen Zentren des Deutschnationalismus, so z. B. in Graz, waren die Folge. Karl Hermann, der Anführer der böhmischen Deutschnationalen, rief gar den Rassenkampf der Germanen gegen die Slawen aus. Aber auch die tschechische Seite war zu keinen Abstrichen bereit, und nationalistische Agitatoren erhöhten ihre Forderungen sogar noch. Nun begannen gewaltsame Protestaktionen der Tschechen in Böhmen, die neuerlich zu einer Verhängung des Ausnahmezustandes in Prag führten. Der nationale Streit wurde aus den politischen Gremien hinaus auf die Straße getragen.

Eskalation war die Folge: Deutschnationale Abgeordnete begannen nun ihrerseits mit der Obstruktion im Reichsrat, was in wüsten Beschimpfungen und Schlägereien unter den Abgeordneten endete. Die Regierung sah sich gezwungen, die parlamentarische Geschäftsordnung zu ändern, um die Krawalle mit Polizeigewalt beenden zu können. Ministerpräsident Badeni entglitt die Situation, als selbst die bisher abwartenden deutschen Abgeordneten der Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten sich den Protesten gegen die Regierung anschlossen. Die sogenannte Badeni-Krise endete 1897 mit der Entlassung Badenis als Regierungschef, der Schließung des Reichsrats und der Rücknahme der Sprachenverordnung. Der böhmische Sprachenstreit hatte Österreich in eine veritable Staatskrise geführt.

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Kořalka, Jiří/Crampton, Richard J.: Die Tschechen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 489–521

Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationalitätenpolitik im Vielvölkerreich

    Am Beginn des Zeitalters der Nationswerdung diente das Reich der Habsburger als Treibhaus für die Entwicklung nationaler Konzepte für die Völker Zentraleuropas.  Später wurde der staatliche Rahmen der Doppelmonarchie jedoch immer öfter als Hindernis für eine vollkommene nationale Entfaltung gesehen.

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.