Die nationale Interpretation der Geschichte des tschechischen Volkes betonte stets das demokratische Element. Die Nationswerdung wurde hier als Emanzipationsversuch breiterer Volksschichten aus feudaler oder nationaler Unterdrückung verstanden. Von den Gegnern aus dem Lager der Verteidiger einer deutschen Hegemonie in Böhmen wurden die Tschechen abwertend als „plebejisches Dienstbotenvolk“ bezeichnet.
Im Gegensatz zu den Polen oder Magyaren waren bei den Tschechen nicht der Adel, der sich in Böhmen zur Doppelsprachigkeit des Landes bekannte und national indifferent blieb, sondern das Bürgertum und die vermögende Bauernschaft die Hauptträger der Nationswerdung.
Die nationale Wiedergeburt der Tschechen profitierte von den Folgen des allgemeinen ökonomischen und sozialen Fortschritts, der die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert grundlegend veränderte. So galt das nach sprachlichen Kriterien getrennte böhmische Schulsystem als das beste der Monarchie. Die Alphabetisierung breiter Volksschichten schuf ein neues Publikum für die blühende tschechische literarische Produktion. Nationale Vereine, Zeitschriften und Verlage wie die 1831 gegründete Matice česká verbreiteten den nun verbindlichen Kanon nationaler Standpunkte.
Dank Industrialisierung und Urbanisierung war eine moderne Massengesellschaft mit einem sozial diversifizierten Spektrum entstanden. Tschechisch war nun nicht mehr ausschließlich die Sprache der Kleinbürger und Bauern, sondern auch eines neuen Mittelstandes. Akademiker und Unternehmer begannen sich nun ebenfalls zur tschechischen Nation zu bekennen. Ausdruck des Wandels war das „Kippen“ ehedem deutsch dominierter Städte zugunsten der Tschechen: So gelang es den Tschechen 1861, die Mehrheit im Prager Gemeinderat zu erlangen.
Unterstützt wurde diese Entwicklung von einem stark ausgeprägtem Vereins- und Genossenschaftswesen, das die nationalen Positionen in die breite Masse transportierte. In erster Linie ist hier die 1862 gegründete Turn- und Sportvereinigung Sokol [Falke] zu nennen, die eine straff organisierte nationale Stoßtruppe darstellte.
Als Triumph wurde die 1882 erfolgte Teilung der auf die mittelalterliche Gründung Karls IV. zurückgehenden Prager Universität in zwei institutionell getrennte Fakultäten mit deutscher bzw. tschechischer Unterrichtssprache gefeiert. Nun war es für Tschechen möglich, die gesamte Bildungslaufbahn von der Grundschule bis zur Universität in ihrer Muttersprache zu absolvieren.
Aber auch auf kulturellem Gebiet arbeitete man für die höheren Ehren der Nation. 1873 wurde eine Initiative zur Fertigstellung des Prager Veitsdomes gestartet, der seit dem 15. Jahrhundert unvollendet geblieben war. Vergleichbar mit der Vollendung des Kölner Doms (als Symbol der deutschen Nationswerdung im 19. Jahrhundert) wurde die Prager Aktion als nationaler Kraftakt und Symbol des Wiedererwachens der Tschechen verstanden.
1881 feierte sich die stolze tschechische Nation mit der Eröffnung des Neubaues des Prager Nationaltheaters, über dessen Bühne die Worte „Národ sobě“ [sinngemäß etwa: Der Nation sich selbst gewidmet] in goldenen Lettern prangten. Das Haus am Ufer der Moldau wurde von nun an die wichtigste Heimstätte für Theater und Musik mit genuin tschechischer Note. Die Werke der Komponisten Bedřich Smetana oder Antonín Dvořák seien hier stellvertretend genannt.
1891 wurde der neue Prunkbau des Nationalmuseums, das als Institution bereits seit Längerem das Zentrum des tschechischen Wissenschaftslebens war, in dominierender Position auf dem Prager Wenzelsplatz fertiggestellt, womit der Hegemonieanspruch der tschechischen Kultur in der Hauptstadt des Landes nun auch seinen baulichen Ausdruck gefunden hatte.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Kořalka, Jiří/Crampton, Richard J.: Die Tschechen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 489–521
Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch