Der Nationswerdungsprozess bei den Tschechen kann geradezu als prototypisch für die Entstehung eines modernen Nationalbewusstseins unter den kleineren Völkern Zentraleuropas angesehen werden. Die Tschechen hatten hier in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle.
Die Nationswerdung setzte bei den Tschechen sehr früh ein, da ein gewisses Sprachbewusstsein vorhanden war. Das Tschechische war vom 15. bis ins 17. Jahrhundert die bestimmende Verwaltungssprache in den böhmischen Ländern gewesen, verlor jedoch im Laufe von deren zunehmender Integration in den Verband der Habsburgermonarchie rasant an Bedeutung. Bereits in der Barockzeit erschienen erste Streitschriften, die auf eine Bewahrung des tschechischen Charakters des Landes pochten.
Im Zuge der Aufklärung begann man mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichtsquellen und der tschechischen Sprache. Es war dies jedoch noch keine breite Volksbewegung, sondern eine Art Elitenprogramm kirchlicher Gelehrter und adeliger Mäzene. Als erste landeskundliche Institution wurde 1790 in Prag die Königlich Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften gegründet.
Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die unter Maria Theresia und Joseph II. betriebene Auflösung der letzten Reste der Eigenständigkeit der böhmischen Ländergruppe. Der böhmische Adel, der dem Wiener Zentralismus skeptisch gegenüberstand, besann sich auf die historischen Wurzeln des Landes. In Böhmen konnte man auf ein starkes regionales Bewusstsein zurückgreifen, das anfänglich noch beide Sprachgruppen – Deutsche wie Tschechen – im Sinne eines übernationalen Landespatriotismus einbezog.
Doch bald verengte sich der Begriff „Böhme“, unter dem lange Zeit jeder Bewohner des Landes, egal ob der deutschen oder tschechischen Sprachgruppe angehörend, verstanden wurde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der „Böhme“ zunehmend dadurch definiert, dass er böhmisch (= tschechisch) spricht. Dies geht zurück auf die Tatsache, dass die tschechische Sprache die später im Deutschen eingeführte Differenzierung zwischen „Böhme“ (= Bewohner des Landes) und „Tscheche“ (= Angehöriger der tschechischen Sprachnation) nicht kennt. Im tschechischen Begriff „Čech“ sind beide Bedeutungen vereint, wobei man dies von tschechischer Seite dahingehend interpretierte, dass nur Tschechen Böhmen sein könnten.
In der Folge wandelte sich der ethnisch noch indifferente bohemistische Landespatriotismus zum tschechischen Sprachnationalismus. Die Verfechter der Zweisprachigkeit der böhmischen Nation gerieten bald in eine Minderheitenposition. So war der Ausspruch von Graf Josef M. Thun, eines liberal gesinnten Mitglieds des böhmischen Hochadels, der 1845 meinte, er sei „weder Czeche, noch Deutscher, sondern nur ein Böhme“, um die Mitte des 19. Jahrhundert bereits anachronistisch.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch