Die Tschechen waren die zahlenmäßig drittstärkste Ethnie der Habsburgermonarchie. Die böhmischen Länder – Böhmen, Mähren und Schlesien – waren ihre historischen Hauptsiedlungsgebiete. In vielen Bereichen standen sie dort in erbitterter Konkurrenz mit ihren deutschsprachigen Landsleuten.
In Böhmen betrug laut der Volkszählung von 1910 der Anteil der Tschechen 63,2 %. Hier lag das historische Kerngebiet der Tschechen, Böhmen war daher auch die Wiege der modernen tschechischen Nation. Das tschechische Element hatte seinen Schwerpunkt in den zentralen Landschaften Böhmens. Aufgrund zunehmender Arbeitsmigration stieg der tschechische Anteil aber auch in den nordböhmischen Industriegebieten stark an.
Böhmen war Schauplatz besonders heftig ausgetragener nationaler Konflikte zwischen Tschechen und Deutschen, die ein Drittel der Bevölkerung des Landes ausmachten. Die Landeshauptstadt Prag hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zum kulturellen Zentrum der tschechischen Nation entwickelt und wandelte sich von einer deutsch dominierten Stadt zur tschechischen Metropole. Dementsprechend sank der Anteil der Deutschen in der Stadt auf 6,1 % (Stand 1910).
Böhmen war das industrielle Zentrum der Habsburgermonarchie. Der Schwerpunkt lag zwar im deutschsprachigen Nordböhmen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts griff die Industrialisierung aber auch auf das tschechische Binnenland über, wo die Textil-, Maschinenbau- (Škoda-Werke) und Lebensmittelindustrie (Zuckerraffinerien, Großbrauereien, etc.) stark expandierte.
In Mähren war der tschechische Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 71,8 % noch höher als in Böhmen. Dennoch war hier das deutsche Element stärker spürbar: Deutsch geprägt waren die größeren Städte wie Brünn (Brno) oder Olmütz (Olomouc), aber auch in vielen Kleinstädten lebte ein einflussreiches deutsches Bürgertum. Die beiden Ethnien waren hier geographisch weit weniger strikt von einander getrennt als in Böhmen. In Mähren galt eher der Gegensatz zwischen den deutsch dominierten Städten und dem tschechisch dominierten Umland. Die Zweisprachigkeit und die Bereitschaft zur Kooperation waren hier in beiden Sprachgruppen weiter verbreitet als im vom deutsch-tschechischen Antagonismus zerrissenen Böhmen.
In Schlesien lagen die Tschechen mit 24,3 % der Bevölkerung nach den Deutschen und Polen an dritter Stelle. Die Tschechen besiedelten die zentralen Gebiete dieses kleinen Territoriums, das nach Verlust des Großteils von Schlesien in den österreichischen Erbfolgekriegen an Preußen unter habsburgischer Herrschaft verblieben war. Schlesien machte im 19. Jahrhundert einen starken Wandel durch: Aufgrund der Kohlelagerstätten entstand hier ein Zentrum für Schwerindustrie um Mährisch Ostrau (tschech. Moravská Ostrava), was einen starken Zuzug von tschechischen Arbeitern in diese Industrieregion nach sich zog.
Tschechen waren als ethnische Minderheit aber auch in anderen Kronländern zu finden. In Niederösterreich betrug ihr Anteil 3,8 %, was v. a. auf die massive Arbeitsmigration nach Wien und in die Industriegebiete Niederösterreichs zurückzuführen war. Der tschechische Ziegelarbeiter oder die böhmische Köchin sind hier bis heute ein mittlerweile sentimental verbrämtes Klischee. Die Wiener Tschechen waren aber nicht nur unter den Industriearbeitern und als Dienstpersonal zu finden, sondern auch im Kleingewerbe und im Handwerk stark vertreten, ebenso als Beamte in den zentralen Stellen der Staatsverwaltung. Tschechen waren aber auch in anderen Teilen der Monarchie anzutreffen, wo sie aufgrund des im Vergleich zu den meisten anderen Sprachgruppen höheren Bildungsniveaus und der starken industriellen Traditionen als Fachkräfte gesucht waren.
Insgesamt bekannten sich 1910 ca. 6,7 Millionen BürgerInnen der Habsburgermonarchie zur tschechischen Sprachgruppe. In Cisleithanien waren die Tschechen mit einem Anteil von 23 % nach den Deutschen die zweitgrößte Gruppe. Im Gesamtstaat bildeten sie mit 12,6 % die drittgrößte Nationalität nach den Deutschen und Magyaren.
Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügten die Tschechen über einen im Vergleich zu den meisten anderen Nationalitäten der Habsburgermonarchie (mit Ausnahme der Deutschen) überdurchschnittlichen hohen sozioökonomischen und kulturellen Standard, was sich auch in ihrem ausgeprägten Selbstbewusstsein und Nationalstolz äußerte. Um 1900 galten die Tschechen als die am höchsten entwickelte Nation in Europa, die über keinen eigenen Nationalstaat verfügte.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Rumpler, Helmut/Seger, Martin (Hrsg): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/2: Soziale Strukturen, Wien 2010
Kořalka, Jiří/Crampton, Richard J.: Die Tschechen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 489–521
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch