Die nationalen Erwecker

Die tschechische Nationswerdung war von den kulturellen Pionierleistungen der sogenannten „Erwecker“ (tschechisch: buditelé) geprägt. Eine Reihe von Gelehrten schuf zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Fundamente des modernen tschechischen Nationalbewusstseins, auf der die „Wiedergeburt“ (národní obrození) der tschechischen Sprachnation aufbaute.

Eine herausragende Bedeutung hierfür fiel dem Linguisten Josef Dobrovský (1753–1829) zu, der die Disziplin der Slawistik begründete. Seine Werke – Geschichte der böhmischen Sprache (1792), Ausführliches Lehrgebäude der böhmischen Sprache (1800) und das Deutsch-böhmische Wörterbuch (1800) – legten den Grundstein für die moderne tschechische Sprachlehre und für die Entstehung eines Sprachbewusstseins.

Die nächste Generation der Erwecker wurde von Josef Jungmann (1773–1847) angeführt, der die tschechische Schriftsprache grundlegend reformierte. Sein richtungweisendes Hauptwerk war Slovesnost (Das Schriftum), ein 1820 publiziertes Lese- und Übungsbuch für Orthographie und Stilistik. Jungmann war ein Sprachpurist und versuchte die zahlreichen Germanismen und Fremdwörter, die in der Barockzeit in das Tschechische eingeflossen waren, durch ältere tschechische Wörter, Übernahmen aus anderen slawischen Sprachen oder Lehnübersetzungen zu ersetzen. Sein Vorbild war das reiche tschechische Schrifttum des Humanismus, das seit Jungmann als das „Goldene Zeitalter“ der tschechischen Sprachkultur galt.

Ein Meilenstein im sprachlichen Wettrüsten, das sich zwischen den Vertretern des deutschen und tschechischen Geisteslebens in Böhmen entwickelt hatte, war Jungmanns fünfbändiges tschechisch-deutsches Wörterbuch (1835–1839 erschienen), womit er die Gleichwertigkeit der beiden Sprachen beweisen wollte.

Neben der Wiederbelebung der Sprache war aber auch die Beschäftigung mit der Geschichte essenziell für die tschechische Nationswerdung. Die bedeutendste Persönlichkeit auf diesem Gebiet war František Palacký (1798–1876), der ab 1831 den Posten des Landeshistoriographen am Königlich Böhmischen Landesmuseum in Prag innehatte. Diese auf eine Initiative von Mäzenen aus den Reihen des böhmischen Adels zurückgehende landeskundliche Forschungsstätte wurde 1818 ursprünglich zum Zwecke der Hebung des Landesbewusstseins beider Sprachgruppen in Böhmen gegründet. Unter Palackýs Ägide kam es zu einem Wandel in eine betont tschechische Institution.

Palacký war der Schöpfer des historisch unterlegten ideologischen Fundaments der tschechischen Nationswerdung. Sein Hauptwerk war die 1836 in deutscher Sprache publizierte Geschichte von Böhmen. Deren tschechische Version erschien 1848 unter einem bereits eindeutigeren Titel, nämlich Dějiny národu českého v Čechách a na Moravě (Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren). Palacký entwarf dabei eine dezidiert tschechische Sicht auf die Geschichte des Landes. Demnach sei das tschechische Volk, das von Natur aus freiheitsliebend und demokratisch gesinnt gewesen sei, vom deutschen Feudalsystem unterdrückt worden. Palacký interpretierte die Geschichte als Kampf zwischen dem „Slawentum“ und dem „Deutschtum“. Der von Palacký geschaffene nationale Geschichtskanon teilte die Geschichte der Tschechen in positive und negative Epochen: Positiv konnotiert wurden das Zeitalter der hussitischen Revolution und die Blütezeit des adeligen Ständesystems im 15. und 16. Jahrhundert. Pejorativ besetzt wurden die deutsche Binnenkolonisation im Spätmittelalter, die Niederschlagung des böhmischen Ständeaufstandes 1620 und die danach einsetzende katholische Gegenreformation sowie der Untergang des böhmischen Staatswesens im Verband der Habsburgermonarchie. Diese Wertungen beeinflussen das allgemeine historische Bewusstsein der Tschechen zum Teil bis heute.

Der Wettstreit zwischen deutschen und tschechischen nationalen Erweckern konnte zuweilen auch groteske Formen annehmen. Als Beispiel sei der sogenannte Handschriftenstreit erwähnt. Im patriotischen Übereifer verfasste der Gelehrte Václav Hanka (1791–1861) eine Reihe von Heldenepen, die er – gemäß dem Leitsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“ – als hochmittelalterliche Originale ausgab, um eine bis in die graue Vorzeit zurückreichende Tradition tschechischer Dichtung „beweisen“ zu können. Obwohl diese Werke von Fachleuten bald als Fälschungen enttarnt wurden, begleitete die Kontroverse darüber die tschechische Nationswerdung durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch. 

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Moritsch, Andreas (Hrsg.): Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas [Schriftenreihe des Internationalen Zentrums für Europäische Nationalismus- und Minderheitenforschung 1], Wien 1996

Plaschka, Richard G.: Von Palacký bis Pekař. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 1), Graz 1955

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.