Der österreichische Reichsrat war seit März 1914 nicht mehr einberufen worden. Mit Ausbruch des Krieges wurde das Gebäude an der Wiener Ringstraße demonstrativ in ein Kriegslazarett umgewandelt.
Bereits einige Monate vor dem Kriegsausbruch im Juli 1914 wurde die Volksvertretung der österreichischen Reichshälfte ausgeschaltet – und sollte dies auch bis Mai 1917 bleiben. Die Regierung operierte mit dem berüchtigten Notstandsparagraphen der Verfassung, der ihr die Möglichkeit gab, als notwendig erachtete Maßnahmen am Parlament vorbei durchzusetzen. Dies hatte im alten Österreich eine gewisse Tradition und wurde bereits vor 1914 des Öfteren angewendet.
Der Grund dafür war in der spezifischen politischen Situation der österreichischen Reichshälfte zu suchen, wo der Parlamentarismus vom Nationalitätenstreit gelähmt wurde. Der Reichsrat war bereits seit längerem kein funktionierendes Parlament gewesen, sondern eine Bühne für offen zur Schau getragenen nationalen Chauvinismus und Radikalismus.
Die Ausschaltung des Parlaments war dennoch eine extreme Maßnahme, die weder in Ungarn noch in Deutschland Nachahmung fand, obwohl auch dort die Volksvertretungen zunehmend ihre Rolle als Kontrollinstanz über die Regierung verloren hatten. Da wie dort erlangte die Armeeführung immer stärkeren Einfluss auf die Politik, und durch Zensur sowie den Zwang zum „nationalen Schulterschluss“ wurde öffentliche Kritik an der Kriegspolitik unterdrückt.
In den ersten Kriegsmonaten erhöhte sich der Druck in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die völlige Unterordnung der Zivilverwaltung unter die Bedürfnisse der Armee führte zu einem Zustand, der von Otto Bauer treffend als „bürokratischer Kriegsabsolutismus“ beschrieben wurde. Die von der Armeeführung gesteuerte Bürokratie wurde nun zum wichtigsten Herrschaftsinstrument, das völlig außerhalb der Kontrolle demokratisch legitimierter Instanzen stand.
Besonders stark machte sich der Dirigismus im Wirtschaftsleben bemerkbar, wo alle Bereiche von der Produktion bis zur Distribution unter staatliche Aufsicht kamen. Massive Kriegsmaßnahmen sollten die Ökonomie der ursprünglich nur für eine kurze Kriegsdauer vorbereiteten Monarchie reorganisieren. Die rasch zusammenbrechende Versorgung versuchte man durch Rationierungen zu stabilisieren. Die Staatsbürokratie war mit einem enormen Aufgabenkatalog konfrontiert, und es zeigte sich bald, dass sie den Anforderungen mit Fortgang des Krieges nicht gewachsen war. Mangelnde Koordination und eine Flut von Verordnungen, die nicht oder nur mehr unzureichend exekutiert werden konnten, machten das Scheitern bald offenbar.
Verschärft wurde die Lage durch empfindliche militärische Rückschläge im ersten Kriegsjahr. Die Armeeführung kompensierte ihr Versagen mit aggressiverem Auftreten nach innen. Die Militarisierung der Gesellschaft gipfelte in der Forderung nach einer Einführung der Armeeverwaltung in Böhmen und Kroatien, wo man aus nationalistischen Gründen eine erhöhte Bereitschaft zum Widerstand zu finden glaubte. Eine Forderung, die schließlich nicht in letzter Konsequenz umgesetzt wurde.
Zu einer völligen Unterwerfung unter die Armeeverwaltung kam es jedoch in jenen Gebieten der Monarchie, die zum Kampfschauplatz geworden waren: In Galizien sowie in den Grenzregionen zu Italien wurde die Zivilbevölkerung zwangsweise abgesiedelt, aus nationalen oder politischen Gründen als „nicht zuverlässig“ eingestufte Teile der Gesellschaft wurden brutal ausgeschaltet.
Als ein baldiges Ende des Krieges in immer weitere Ferne rückte, kam es zu einer nochmaligen Verschärfung. Die Forderungen der Armee zielten de facto auf die Einführung einer Militärdiktatur ab.
In diese angespannte Situation platzte die Nachricht vom Attentat auf den österreichischen Ministerpräsidenten Stürkgh am 21. Oktober 1916. Graf Stürkgh war die Personifikation des autoritären militärisch-bürokratischen Regimes, das sich in der Habsburgermonarchie etabliert hatte, und weigerte sich beharrlich, den Reichsrat wiedereinzuberufen. Sein Mörder war Dr. Friedrich Adler, ein führender Vertreter der Sozialdemokratie, der seine Tat mit der Notwendigkeit begründete, auf die unhaltbaren Zustände aufmerksam machen zu müssen.
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Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013
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Kapitel
- Die Begeisterung für den Krieg
- „Waffenbrüder“: Österreich-Ungarn und Deutschland als Partner und Verbündete
- Frontlinien – Der Kriegsverlauf 1914–16
- Der Kriegseintritt Italiens
- Der Einfluss des Krieges auf die Zivilgesellschaft
- Der Regierungsantritt Kaiser Karls I.
- Die Sixtus-Briefe – Karls Suche nach einer Exitstrategie
- Karls Versuch eines Befreiungsschlages
- Die russische Revolution und ihre Folgen
- 1917 – Die Wende im Kriegsgeschehen