Karls Versuch eines Befreiungsschlages

Kaiser Karl hatte den autoritären Tendenzen in der Staatsführung und den Forderungen des allmächtigen Militärapparates nicht viel mehr entgegenzusetzen als seinen guten Willen.

Die Versuche Karls, einen innenpolitischen Spielraum für sich zu erkämpfen, führten dazu, dass der Kaiser vom autoritären Kurs der Regierung Clam-Martinitz Abstand nahm.

Als versöhnliche Maßnahme Karls wurde allgemein die Wiedereinberufung des Reichsrates im Mai 1917 gesehen. Damit wurde die Volksvertretung wieder in Funktion gesetzt (anders als das ungarische Parlament, das seine Tätigkeit ungehindert fortführen konnte). Seit der Schließung des Parlaments im Frühjahr 1914 hatte die Regierung mit dem sogenannten Notparagrafen (§14 der Verfassung von 1867) gearbeitet, der die Verabschiedung von Gesetzen ohne Reichsratsbeschluss ermöglichte. Österreich war während der ersten Kriegsjahre de facto eine Diktatur gewesen.

Nach der dreijährigen Pause blieben viele Plätze im Sitzungssaal leer, was ein deutliches Sinnbild des Wandels war: Einige Abgeordnete waren in der Zwischenzeit verstorben, andere im Krieg gefallen, ohne dass deren Plätze nachbesetzt worden wären. Einige Oppositionspolitiker (wie zum Beispiel der spätere tschechoslowakische Präsident Tomáš G. Masaryk) waren ins Exil gegangen, um einer Verfolgung durch die österreichische Staatsmacht zu entfliehen. Etliche Abgeordnete waren wegen „Zersetzung der Staatsmacht“ verurteilt und eingekerkert worden; Den italienischen Abgeordneten Cesare Battisti hatte man sogar wegen Hochverrats hingerichtet.

Hier setzte eine weitere versöhnliche Geste des Kaisers an: Im Juni 1917 erließ Karl eine umfassende Amnestie für all jene Personen, die wegen politischer Delikte (Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Störung der öffentlichen Ruhe, Aufruf zu Aufstand und Aufruhr, etc.) verurteilt waren.

Der wieder einberufene Reichsrat wurde nun entgegen der Intentionen des Kaisers zum wichtigsten Schauplatz der sich zuspitzenden nationalen Konflikte und des Zerfalls der Monarchie. In der „Mai-Deklaration“ forderten tschechische und südslawische Abgeordnete weitgehende Reformen. Die Südslawen sprachen sich für eine Vereinigung ihrer Siedlungsgebiete zu einem zusammenhängenden Territorium aus. Die Tschechen wollten nicht nur die territoriale Vereinigung der tschechischen Gebiete, sondern erstmals auch eine Einbeziehung der Slowaken. In beiden Fällen hätte dies den bisherigen Dualismus gesprengt: Die böhmischen Länder gehörten zur österreichischen Reichshälfte, während die slowakischen Gebiete einen integralen Bestandteil des historischen Ungarns darstellten. Ähnlich verhielt es sich bei den Südslawen, die Territorien beanspruchten, die von Teilen Kärntens und der Steiermark im Norden über Kroatien und das südliche Ungarn bis Bosnien reichten. Bemerkenswerter Weise sahen die Anhänger dieser Reformforderungen ihre Zukunft jedoch weiterhin im Rahmen der Habsburgermonarchie – eine Prämisse, die bald darauf in Frage gestellt werden sollte.

Wie zu erwarten war, konnte hierzu keine Einigung erzielt werden, denn eine föderalistische Umgestaltung der Monarchie traf auf die völlige Ablehnung bei den deutschen Vertretern, die hier mit der Unterstützung der magyarischen Eliten in der ungarischen Reichshälfte rechnen konnten.

Die Folge dieser inneren Krise war der Rücktritt der Regierung Clam-Martinitz im Juni 1917. Ebenso blieben die folgenden, ob der scheinbar unlösbaren Probleme ständig wechselnden Regierungen in Cisleithanien ohne Unterstützung des Reichsrates, der zu einer Plattform für den nationalen Separatismus wurde.

Auch in Ungarn, das bisher dank des straffen Kurses von Ministerpräsident István Tisza vergleichsweise stabil war, vereinigte sich nun die Opposition im Kampf gegen das autoritäre Regime. Im Juni 1917 musste schließlich auch die Regierung Tisza resignieren.

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.