Mit Ausbruch des Krieges gewannen komplementäre Geschlechtercharaktere erneut an Bedeutung. Dem Ideal des aktiven bzw. kampftauglichen Soldaten wurde das Bild der passiven, sich aufopfernden Mutter gegenübergestellt, das außereheliche Sexualkontakte von Frauen weitgehend stigmatisierte.
Diese Vorstellung einer polaren Geschlechterordnung hatte ihre Wurzeln in der bürgerlichen Doppelmoral und ihren kriegsspezifischen Ausprägungen. Während die sexuelle Mobilität der Soldaten weitgehend akzeptiert wurde, verurteilte man jegliche Form weiblicher Sexualität, die außerhalb der Ehe stattfand. Das weibliche Sexualverhalten in der Heimat rückte nicht nur aufgrund bevölkerungspolitischer Überlegungen ins Zentrum des nationalstaatlichen Interesses. Die Kampfmoral der Soldaten war – so die gängige Vorstellung – in hohem Maße von der sexuellen Treue der daheim gebliebenen Frauen abhängig.
Die Folge war eine zunehmende Kriminalisierung weiblicher Sexualität. Außereheliche Sexualkontakte von Frauen wurden unter dem Begriff der „geheimen Prostitution“ subsumiert – und dies auch, wenn der gewerbliche Aspekt fehlte. Geheime Prostituierte, so ist einem Bericht der Statthalterei Innsbruck vom März 1918 zu entnehmen, „sind Frauenspersonen, welche offenbar mit verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr pflegen […], auch wenn sie aus ihrem Verkehr keinen materiellen Nutzen ziehen.“
Die erhöhte sexuelle Mobilität der Frauen gefährdete die stabile Geschlechterordnung. Untreue Frauen passten nicht zur Kriegspropaganda, nach der die Soldaten auch zum Schutze ihrer sich aufopfernden und fürsorglichen Frauen in den Kampf zogen. Dies rief nationale Besorgnis und eine Reihe von einschlägigen Initiativen zur Kontrolle des weiblichen Sexualverhaltens auf den Plan.
In Österreich und Deutschland kam es während des Krieges zu einer Verschärfung der sittenpolizeilichen Kontrolle sowohl von registrierten Prostituierten als auch von Frauen, die sich der (gewerbsmäßigen) Unzucht nur verdächtig machten. Seitens der Ärzteschaft und Gesundheitspolitiker wurden immer wieder Klagen über die geringe Effizienz der Überwachung der „geheimen Prostitution“ durch die Sittenpolizei erhoben. Das österreichische Militär beantragte daher, bei den im Gastgewerbe tätigen Frauen, die aus militärischer Perspektive eine Risikogruppe für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten darstellten, regelmäßige Zwangsuntersuchungen durchzuführen. Massive zivile Proteste verhinderten jedoch die Umsetzung des Antrags.
Frauen, die eine (sexuelle) Beziehung zu einem Kriegsgefangenen eingingen, hatten sowohl gesellschaftliche Ächtung als auch strafrechtliche Verfolgung zu erwarten. In Österreich wurde nach einer kaiserlichen Verordnung vom 23. Mai 1915 jeder Kontakt zwischen Zivilisten und Kriegsgefangenen, der nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses stattfand, verboten und unter Strafe gestellt. Das Strafausmaß sollte zudem in der jeweiligen Wohngemeinde der betroffenen Frauen verlautbart werden. In Innsbruck sorgten die Mitglieder der sogenannten „Ohrfeigen-Liga“ dafür, Frauen, die mit Kriegsgefangenen ein Verhältnis eingingen, durch öffentliche Züchtigung zu denunzieren.
Diese öffentliche Diskreditierung stellte eine weitere Möglichkeit dar, das Sexualverhalten von Kriegerfrauen zu kontrollieren. Die gesellschaftliche Verleumdung von Soldatenfrauen, deren Männer sich an der Front und in der Etappe sexuell vergnügten, war Ausdruck der bürgerlichen Doppelmoral und ihrer kriegsspezifischen Ausprägung.
Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989
Daniel, Ute: Frauen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 116-134
Hirschfeld, Magnus/Gaspar, Andreas: Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, 2. Auflage, Hanau am Main 1966
Kundrus, Birthe: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995
Peters, Hubert: Über Schutzmaßregeln für die Frauenwelt in hygienischer und sozialrechtlicher Beziehung, Wien 1918
Überegger, Oswald: Krieg als sexuelle Zäsur? Sexualmoral und Geschlechterstereotypen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Kulturgeschichtliche Annäherungen, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 351-366
Zitate:
„sind Frauenspersonen, welche …“: Statthalterei-Rundschreiben an die Bezirkshauptmannschaften, 7.3.1918, zitiert nach: Überegger, Oswald: Krieg als sexuelle Zäsur? Sexualmoral und Geschlechterstereotypen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Kulturgeschichtliche Annäherungen, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 359
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Kapitel
- Trennung der Ehepaare und sexuelle Mobilität im Ersten Weltkrieg
- Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs
- „Die Mobilisierung der Wiegen“
- Zwischen staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Ächtung
- Zwischen Enthaltsamkeit und Bedürfnisbefriedigung
- Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k. u. k. Armee
- „Am Anfang widerstehe“
- Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
- Zwischen Vorbeugung und Strafandrohung
- Sexuelle Gewalt im Ersten Weltkrieg
- Sexuelle Gewalt als Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda