Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs

Seit der Jahrhundertwende kam es in Mitteleuropa zu einem beträchtlichen Rückgang der Geburtenziffern. Aufgrund der sich rasant verschlechternden Versorgungslage während des Krieges nahm die Zahl der Neugeborenen zwischen 1914 und 1918 weiter ab.

Im Raum des späteren Deutschösterreich sank die jährliche Geburtenanzahl von ca. 250.000 vor Kriegsbeginn bis ins Jahr 1918 auf 140.000 Geburten. Wurden in Wien im Jahr 1913 noch 37.367 Kinder geboren, waren es 1918 nur mehr 19.257. Im Deutschen Reich kamen während der Kriegszeit über 2 Millionen Kinder weniger zur Welt.

Als Ursachen für den in allen Kriegsgesellschaften zu beobachtenden Geburtenrückgang kommen neben der Separation der Ehepaare vor allem wirtschaftliche Gründe ins Spiel: Eine Schwangerschaft wurde aufgrund der angespannten Versorgungssituation in der Heimat als eine (weitere) Belastung empfunden, und viele Paare versuchten diese zu vermeiden.

Infolge der Einberufung der Ehemänner lag die Verantwortung für die Ernährung und das Durchkommen der Familie bei den Frauen. Sie mussten nicht nur den Arbeitskräftemangel kompensieren und damit ursprünglich von Männern verrichtete Aufgaben übernehmen, sondern auch die Nahrung beschaffen. Vor allem das stundenlange Schlangestehen vor den Lebensmittelgeschäften wurde als große Strapaze empfunden. Der Gesundheitszustand vieler Frauen verschlechterte sich drastisch, sodass diese oftmals zu geschwächt waren, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Während die Zahl der Schwangerschaften abnahm, kam es besonders unter den Wiener Arbeiterinnen zu einer deutlichen Zunahme von Fehlgeburten und einer erhöhten Säuglingssterblichkeit.

Eine Fürsorgerin der Gemeinde Wien schilderte die Missstände in der Mutterbetreuung folgendermaßen:

„Kaum einige Tage Ruhe sind der Wöchnerin nach der Geburt vergönnt, dann muss sie wieder hinaus und sich an verschiedenen Stellen um Lebensmittel anstellen […]. Es gibt eine Verordnung, dass schwangere Frauen und stillende Mütter sich nicht anstellen müssen. […] Wenn sie auf das ihnen eingeräumte Recht pochen, so gibt man ihnen zur Antwort: ‚Das sind Verordnungen vom Magistrat oder den Krankenkassen, die gehen uns nichts an.’ So sieht der Mutter- und Säuglingsschutz in der Praxis aus.“

Auch wenn die außerehelichen Sexualkontakte häufiger wurden, ging die Zahl der unehelichen Geburten stärker zurück als die der ehelichen. Dies deutet auf die zunehmende Verwendung von Verhütungsmitteln sowie auf eine weit verbreitete Abtreibungspraxis hin. Zu den vor allem innerhalb der Arbeiterschaft gängigen Verhütungsmethoden zählten der ‚coitus interruptus’ (landläufig auch als ‚Aufpassen’ bezeichnet) sowie die nach dem Geschlechtsverkehr angewandten Scheidenspülungen. Sichere Kondome waren oftmals zu teuer und Pessare bzw. Diaphragmen erforderten kostspielige Arztbesuche.

Trotz des sowohl in Österreich als auch in Deutschland geltenden strengen Abtreibungsgesetzes, das solche Delikte mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestrafte, waren Schwangerschaftsabbrüche gängige Praxis. Umfragen aus der Zeit ergaben, dass die betroffenen Frauen darin nichts ‚Verwerfliches’ sahen, sondern eine legitime Methode, um einer Verschlechterung der eigenen Notsituation entgegenzuwirken. Neben den üblichen Abtreibungsmitteln wie Mutterkorn oder Sadebaum kamen nun auch Chemikalien und Instrumente zum Einsatz. Verletzungen und Infektionen waren jedoch eine häufige Folge, weshalb die Abtreibung für viele Frauen zum lebensgefährlichen Unterfangen wurde.

Bibliografie 

Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987

Daniel, Ute: Frauen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 116-134

Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989

Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, 2. Auflage, München 2009

Kundrus, Birthe: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995

 

Zitate:

„Kaum einige Tage Ruhe …“: Fürsorgerin der Gemeinde Wien, in: Arbeiterinnen-Zeitung, Nr. 24 vom 27. November 1917, 5, zitiert nach: Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987, 154

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?

Erinnerungen