„Die Mobilisierung der Wiegen“

Pronatalistische Maßnahmen im Ersten Weltkrieg

Die Zahl der Geburten nahm zwischen 1914 und 1918 rapide ab. Angesichts der Menschenverluste, die der Krieg forderte, rückte das reproduktive Verhalten der Kriegsbevölkerung ins Zentrum des nationalstaatlichen Interesses.


 

Die Krieg führenden Staaten betrachteten den Geburtenrückgang mit großer Besorgnis, stellte er doch eine Bedrohung für die Wehrfähigkeit und militärische Stärke der Nation dar. Die Hebung der Kinderzahlen avancierte zum nationalen Projekt. In allen Kriegsgesellschaften kam es zu pronatalistischen Maßnahmen bzw. zum Ausbau der Mütter- und Säuglingsfürsorge.

So erhielten unverheiratete Frauen, die von einem Soldaten schwanger waren, in beinahe allen kriegführenden Ländern staatliche Familienunterstützung. In Deutschland wurde bereits im Dezember 1914 die Verordnung über Reichswochenhilfe verabschiedet. Frauen, deren Männer in den Krieg gezogen waren und die zuvor eine Krankenversicherung hatten, sollten zukünftig eine finanzielle Unterstützung erhalten, um die Entbindungskosten tragen zu können. Seit 1915 hatten uneheliche Kinder, deren Vater als Soldat im Krieg gefallen war, zudem einen Anspruch auf eine Pension. Der Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten sowie von Säuglingsfürsorgestellen zählte ebenfalls zum Maßnahmenkatalog der Krieg führenden Länder.

Hinzu kamen Zuwendungen für Mütter, die ihre Kinder selbst stillten. Die Bezirkskrankenkasse in Wien Floridsdorf zahlte ab 1916 Wöchnerinnen, die sich dazu bereit erklärten, ihr Kind über einen Zeitraum von mindestens acht Wochen selbst zu stillen und währenddessen keiner Arbeit nachzugehen, sogenannte Stillprämien. Die Gemeinde Wien unterstützte sozialbedürftige Schwangere und Mütter, indem sie Wochenhilfe bereitstellte und Milchmarken sowie Ausspeisungen verteilte. Mit der Reformierung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1917 erweiterte die Regierung Cisleithaniens den Wöchnerinnenschutz von vier auf sechs Wochen und sicherte stillenden Frauen weitere Hilfestellungen zu.

Neben den staatlichen Maßnahmen waren es vor allem private Fürsorgeinitiativen, die den Wöchnerinnen Unterstützung zukommen ließen, um damit der Säuglingssterblichkeit entgegenzuwirken. In Wien kam es Anfang 1915 zur Gründung der Aktion Kriegspatenschaft. Wohlhabende Bürger sollten dafür als Paten für Kinder von hilfsbedürftigen Müttern auftreten und monatlich einen Unterstützungsbeitrag von 12–14 Kronen leisten. Bis Kriegsende betreute die Kriegspatenschaft insgesamt 29.100 Kinder.

Der Gründungsaufruf des Kuratoriums für Kriegspatenschaft verdeutlicht die bevölkerungspolitischen Anliegen, die dieser Aktion zugrunde lagen:

„In den Tagen, wo Tausende unserer Männer auf den Schlachtfeldern stehen, ist es patriotische und Herzenspflicht, mehr denn je dem Schutze des Kindes Fürsorge zuzuwenden; ist doch die kommende Generation dazu bestimmt, später die Lücken auszufüllen, die jetzt durch den Krieg in unsere Reihen gerissen werden.“

Angesichts der Vielfalt an privaten und staatlichen geburtenfördernden Maßnahmen kann – in Anlehnung an den Titel eines 1917 erschienenen Werkes von Ferdinand-Antonin Vuillermet – von einer regelrechten „Mobilisierung der Wiegen“ gesprochen werden, die jedoch den sinkenden Geburtenraten letztlich nichts entgegenzusetzen vermochte.

Bibliografie 

Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987

Daniel, Ute: Frauen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 116-134

Eder, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, 2. Auflage, München 2009

Kundrus, Birthe: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995

Sauerteig, Lutz: Sex, Medicine and Morality during the First World War, in: Cooter, Roger/Harrison, Mark/Sturdy, Steve (Hrsg.): War, Medicine and Modernity, Stroud 1998, 167-188

 

Zitate:

„In den Tagen …“: Gründungsaufruf des Kuratoriums für Kriegspatenschaft, in: Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge, (1915), 1, 16, zitiert nach: Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987, 157

„Mobilisierung der Wiegen“: Vuillermet, Ferdinand-Antonin: La mobilisation des berceaux, Lethielleux, 1917 (Übersetzung)

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?

Erinnerungen